Ein persönlicher Erfahrungsbericht
Wie kann es sein, dass jemand ganz plötzlich verschwindet und gleichzeitig überall ist? In dem er – oder sie – stirbt. Ich habe eine Freundin verloren. Sie war diejenige, die mich länger als die Hälfte meines Lebens begleitet hat. Wir haben uns als Teenager kennengelernt, uns gegenseitig durch viele Phasen unseres Lebens bewegt. Durch Krisen, Trennungen, Umbrüche. Später haben wir fast gleichzeitig Kinder bekommen und uns auch dann Seite an Seite durch Schwangerschaften und Mutterschaft entwickelt.
Nach ihrem Tod schrieb mir jemand: „Wie prekär das Leben ist, und wie wichtig Freundschaften sind.“ Und gerade nach diesem Verlust merke ich wieder, wie sehr das stimmt. Stabile Freund*innenschaften sind tragender Pfeiler in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft, besonders für FLINTA* und Mütter. In einer patriarchalen Gesellschaft werden Care-Arbeit, emotionale Belastungen und soziale Verantwortung oft auf FLINTA* abgewälzt – besonders auf Mütter. Stabile Freund*innenschaften bieten hier einen Raum, in dem sie sich verstanden, unterstützt und nicht bewertet fühlen. Sie dienen als emotionales Auffangnetz und ermöglichen Austausch auf Augenhöhe – jenseits traditioneller Rollenbilder. Ich durfte erschöpft, wütend oder verwirrt sein, sie blieb. Es sind meine Freundinnen, mit denen ich über Bindungstheorien diskutieren und eigene Grenzen thematisieren kann. Bei denen ein Satz wie: „Ich kann nicht mehr“ nicht als Schwäche gilt, sondern als ehrliches Teilen.
Mit ihr konnte ich freisprechen, ohne meine Gedanken vorher ordnen zu müssen. Fehler waren erlaubt, denn es bestand nie die Gefahr, verletzt oder missverstanden zu werden. Wir waren sicher miteinander. Persönlich, als auch in meinem beruflichen Kontext in der Krisenintervention, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Freund*innenschaften emotionale Bildungsräume sein können. Sie ersetzen zwar keine therapeutische Begleitung, bieten aber oft den ersten geschützten Ort, an dem man lernt, über sich zu sprechen, Gefühle zu benennen und über Erlebtes zu reflektieren.
Der Verlust einer solchen Freund*innenschaft ist schmerzhaft und löst massiven Stress aus – nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Unser Gehirn registriert die Trennung wie eine Bedrohung. Es aktiviert das Stresssystem, die sogenannte HPA-Achse, und schüttet Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Der Körper gerät in Alarmbereitschaft: Das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen sich an, der Schlaf wird unruhig. Diese Reaktion ist evolutionär tief verankert – weil der Ausschluss aus sozialen Bindungen früher tatsächlich das Überleben gefährden konnte. Heute äußert sich diese „soziale Alarmreaktion“ in innerer Unruhe, Erschöpfung oder körperlichem Schmerz. Freundschaften sind also nicht nur emotionale, sondern auch biologische Schutzräume.
Und genau deshalb braucht das Begreifen seinen Raum. Der Therapeut und Psychologe Jorge Bucay vergleicht die Phasen der Trauer mit der Wundheilung, die mit Blutungen, heftigen Schmerzen beginnen und mit Rückbildung des Schorfes und Vernarbungen enden. Und auch im Trauermodell der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross wird die Trauer in fünf Phasen unterteilt: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Doch ich spüre, dass diese Phasen nicht immer linear verlaufen. Sie durchdringen und überlappen sich, kommen in Wellen, immer wieder. Als würde der Schorf immer wieder aufplatzen, die Wunde bluten. Auch jetzt, Wochen später, gibt es noch Momente, in denen ich nicht realisieren kann, dass es sie ist, um die ich trauere und über die ich das hier schreibe.
Ich kann mittlerweile akzeptieren, dass dieses emotionale Durcheinander in mir Teil eines Prozesses ist, der Zeit braucht. Etwas zu betrauern ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Bedeutung.
Alles, was zuvor fest erschien, ist ins Fließen geraten: Die Abläufe meines Tages, Dinge, die mir einst Freude bereitet haben, fühlen sich manchmal nur noch wie Aufgaben an – als müsste ich sie erledigen, um weiterhin am normalen Leben teilnehmen zu können. An einem Leben, das nicht zerbrechlich zu sein scheint.
Alles ist von der Trauer überzogen – wie die Zunge nach dem Schlumpfeis.
Mein Kind (das eine Vorliebe für Listen hat) fragt: „Kommt jetzt die Freundin, die auf Platz zwei war, auf Platz eins?“
Ich bin dankbar für seine Frage und antworte: „Nein. Niemand rückt einfach nach. Einen Menschen kann man nicht ersetzen.“ Die Beziehungen zu anderen Menschen treten nun manchmal in ein neues Licht – doch das mindert ihren Wert nicht. Ich schätze jede einzelne Freund*innenschaft, die ich führen darf. Vielmehr verändert der Verlust meinen Blick: Er macht mich achtsamer, auch in den Verbindungen, die bleiben. Immer wieder muss ich das, was ist – die Realität ihres Nicht-mehr-Da-Seins – abgleichen mit dem, was ich fühle: ihre Nähe.
Wie gebe ich meiner Trauer Raum, wenn ich gleichzeitig als Mutter präsent sein muss?
Noch bevor ich etwas erklären konnte, hat mein Kind gespürt, dass etwas passiert war. Denn Kinder nehmen nicht nur unsere Worte wahr, sondern auch das Schweigen.
Als ich vom Tod meiner Freundin erfuhr, musste ich den kleinen Menschen, der sich auf Eis mit mir gefreut hatte, versetzen. Er hatte Ferien und war mit der Oma auf einem Ausflug, als mich die Nachricht erreichte. Wir hatten uns zum Eisessen verabredet. Man erzählte ihm, mir sei etwas dazwischengekommen, und er müsse ohne mich Eis essen gehen – und danach zurück zu seinem Vater, bei dem er gerade die Ferien verbrachte. Ich weinte. Nicht um sie – noch nicht –, sondern darüber, ihn enttäuscht zu haben. Das war greifbar. Der Verlust meiner Freundin hingegen schien noch nicht real. Ich wimmerte, klagte über die Ungerechtigkeit. Ich sprach von meinem Kind – aber eigentlich meinte ich mich selbst.
Typisch für einen Schock ist das Gefühl der Unwirklichkeit. Alles wirkt wie eine ferne Szene, als sehe man einen Film, erschrocken, rational denkend, aber emotional nicht wirklich dabei. Der Verstand schützt sich, indem er die Wucht der Realität zunächst abblockt. Die Leere, als Schutzfunktion.
Es gibt das sogenannte „Broken-Heart-Syndrom“, einen realen medizinischen Zustand. Das Herz bricht nicht nur bildlich, es verkrampft sich vor Schmerz. Der Körper zeigt hier: Gefühle entstehen nicht nur im Kopf, sondern sitzen in unseren Muskeln und beeinflussen unsere Bewegungen. Ich bewegte mich kaum noch, aus Angst, mich durch jede Bewegung weiter von ihr zu entfernen. Ich klammerte mich an alles, was uns verband. Bilder, Briefe, Sprachnachrichten, gemeinsame Momente, die ich innerlich abspulte.
In solchen Momenten ist Unterstützung wichtig: ein*e Partner*in, ein*e gute*r Freund*in. Auch Institutionen wie Schule oder Kita können mit einbezogen werden. Ebenso ein Hilfeaufruf in einem Elternchat. Eine weitere, anonymere Anlaufstelle ist zum Beispiel der Notmütterdienst, der in akuten Situationen zum Beispiel bei der Kinderbetreuung helfen kann.
„Mama, das ist das erste Mal, dass ich Trauer fühle. Erst ist da so ein Gefühl, das ist so ‚ahhh‘ – und dann plötzlich wieder ‚äh‘.“
„Ja“, sage ich, „ich bin auch ganz doll traurig. Bei mir fühlt es sich ein bisschen an, als hätte ich große Steine gegessen, die jetzt schwer im Bauch liegen.“
„Mama?“
„Ja?“
„Ich habe ja irgendwie drei Eltern. Wenn da einer stirbt, dann habe ich immer noch zwei.“
„Ja, dann hast du noch zwei Eltern. Aber glaubst du denn, dass du dann weniger traurig wärst? Mit jedem Menschen erlebst du doch andere Abenteuer und Gefühle.“
„Oh ja, das stimmt, mh.“
„Wenn ein Mensch, den man liebt, plötzlich nicht mehr da ist, ist das immer traurig. Und es ist okay, darüber traurig zu sein. Die Traurigkeit zeigt schließlich, wie besonders dieser Mensch für einen war.“
„Ja, S. war voll cool.“
Gespräche wie dieses, so holprig sie manchmal auch sind, helfen uns beiden.
Ich wünsche mir, dass mein Kind, trotz des sehr plötzlichen und unerwarteten Verlusts, behutsam mit dem Thema Tod in Kontakt kommt. Das gemeinsame Suchen nach Worten zeigt einen wertvollen Weg im Umgang mit Trauer: Es macht sichtbar, dass Gefühle widersprüchlich sein können, dass ein „ahhh“ und ein „äh“ zur gleichen Emotion gehören. Ich muss nicht alle „richtigen“ Antworten parat haben, das Gespräch selbst wird zu unserem zuversichtlichen Ort.
Immer wieder schiebt sich in Gedanken an sie ein „Hm“ durch meine geschlossenen Lippen. Ein „Hm“ mit langgezogenen „m“. Zwischendurch und mittendrin: beim Zähneputzen, beim Frühstück, beim Blick auf den Fensterplatz, auf dem sie so gerne saß. Allein auf dem Rad, vorbei an blühenden Fliederbüschen. „Hmmmm“. Wenn Worte fehlen, sprechen manchmal Laute für das Unbegreifliche.
„Wir besitzen nichts auf der Welt-
denn alles kann der Zerfall uns rauben- …“
(Simone Weil, S.38)
Simone Weil sprach vom „Leiden“ als Teil des menschlichen Daseins, als eine existentielle Erfahrung, die uns sowohl verunsichern als auch erheben kann. Für sie war Leiden nicht nur etwas, das es zu ertragen gilt, sondern eine Möglichkeit, in die Tiefe des Menschseins einzutauchen. Sie sagte: „Das Leiden ist das Einzige, was uns dem Leben in seiner Wahrheit näherbringt.“
Was, wenn dieses Leiden in uns eine tiefere Wahrheit über Leben und Tod offenbart – eine, die uns zunächst fremd und unerträglich erscheint? Ich denke, ich hätte gerne auf diese Erfahrung verzichtet und erahne trotzdem, was Weil damit meinte.
Die Anwesenheit des Toten ist imaginär,
aber seine Abwesenheit ist durchaus wirklich:
sie ist hinfort seine Art, uns zu erscheinen.“
(Simone Weil, S.35)
Mein Kind hat auf der Kommode in der Küche einen kleinen Altar hergerichtet. Darauf stehen die bunten Kerzen, die wir immer im Laden auf der Ecke kauften, wenn meine Freundin in der Stadt war. Außerdem die Schokolade, die ich für ihren anstehenden Besuch gekauft hatte, und rosa Federnelken. Nelken stehen für Zuneigung. Denn mit der Trauer kommt meine Erkenntnis: Sie ist so stark, weil das Band zwischen uns so stark war. Kein familiäres Band, dem wir als Kinder oft ausgeliefert waren, sondern ein selbstgewähltes. Jahr für Jahr, Erfahrung für Erfahrung, wurde es strapazierfähig und sicher. Ich dachte immer: Es wird niemals reißen. Gute Bindungen in Freund*innenschaften können schlechte Bindungserfahrungen aus der Kindheit heilen, weil wir in ihnen lernen, anderen zu vertrauen. Ich frage mich, was diese Situation mit meinen bestehenden Freund*innenschaften machen wird. Gerade fragt mich jemand vorsichtig, ob da jetzt nicht Raum für neue Menschen wäre. Aber sie ist doch immer noch da – und nimmt durch die Trauer ihren Raum ein. Wir hatten noch viele gemeinsame Pläne. In meinem Kalender stand ihr Name, wir hatten uns verabredet „endlich, nur wir Zwei“. An demselben Tag, an dem ich hätte mit ihr sein wollen – stand ich bei ihr an ihrem geöffneten Sarg.
Mein Kind hat auch ein Glas Wasser auf den Altar gestellt. Wahrscheinlich erinnerte es sich an die Erzählung eines Restaurantbesitzers über Opfergaben für Verstorbene: Lieblingsessen, Alkohol, Zigaretten. Ich bin stolz, dass mein Kind dies mitgenommen hat und so einen Umgang findet. Etwas tun zu können, gibt ein Gefühl der Kontrolle gerade nach einem Schicksalsschlag.
Ich mache die Erfahrung, wie viel es meinem Kind bedeutet, aktiv in den Trauerprozess einbezogen zu werden. Als ich frage, ob es den Sarg mitbemalen möchte, sagt es sofort „ja“ und überlegt sich ein Motiv – eine untergehende Sonne. Ich erinnere mich, wie mein Kind einmal sagte: „Jetzt geht die Sonne auf“, als sie bei einem Besuch unsere Küche betrat.
Ich glaube, dass kleine Rituale dabei helfen können, einen Verlust besser zu begreifen und einen Abschied zuzulassen. Manchmal geben sie einem auch einfach nur eine Aufgabe, damit man in der Ohnmacht des Verlustes das Gefühl hat, überhaupt etwas tun zu können.
Wir haben darüber gesprochen, was sterben für uns bedeutet. Kinder haben oft eine andere Auffassungsgabe als Erwachsene, deshalb fand ich es hilfreich, immer wieder Rückfragen zu stellen: „Was glaubst du denn?“
So konnte ich erfahren, was er für sich schon wusste, und seine Erklärungen begleiten. Oft begreifen kleinere Kinder den Tod nicht als endgültig und hoffen auf eine Rückkehr des Verstorbenen. Deshalb war es für uns gut, keine komplizierten Erklärungen anzufangen, sondern einfache Sätze zu finden: „das bedeutet, dass sie nicht mehr bei uns sein wird.“ Auch das Anbieten von einem Umgang damit, war für uns beide wichtig „Wir können uns an sie erinnern und sie in unseren Herzen behalten.“
Es gab Momente, da habe ich mich in die Trauer reinfallen lassen. Ich habe vor meinem Kind geweint. Auch mal bitterlich. Ich habe nicht versuchen, meine Trauer oder die meines Kindes „wegzutrösten“. Die Trauerforschung zeigt: Trauer ist kein Zustand, den man „überwindet“. Sie ist ein Prozess, den man in das eigene Leben integriert. Sie wird Teil von uns, wenn wir es zulassen.
Wir leben in Beziehungen, in Freundschaften, in Nähe, in Verbindung. Und wir wissen, dass all das nicht selbstverständlich ist. Gerade wenn das Leben dicht wird, wenn Verantwortung, Fürsorge und Alltag drängen, spürt man den Verlust einer Freundin umso deutlicher. Doch auch der Schmerz trägt etwas in sich: eine Form von Nähe, die nicht mehr im Gegenüber, sondern im Erinnern wohnt. Trost liegt vielleicht im Dasein, im Weiterleben mit dem, was einmal war und ist. In den Erfahrungen, die bleiben, in der Verbindung die bestand und die wir weitergeben können.
Eine wirkliche Freundschaft ist von ihrem Wesen her etwas Ewiges.
( Simone Weil)
Literaturhinweise:
Jorge Bucay: Das Buch der Trauer. Wege aus Schmerz und Verlust. Fischer Verlag, 2019
Elisabeth Kübler-Ross, David Kessler: Dem Leben neu vertrauen: Den Sinn des Trauerns durch fünf Stadien des Verlustes finden. Kreuz Verlag, 2016.
Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. Matthes & Seitz Berlin, 2020.
Marta Marx (*1988) ist Autorin und Künstlerin mit Schwerpunkt auf biografischem und kreativem Schreiben. In ihren Texten erkundet sie Themen wie mentale Gesundheit, Mutterschaft und zwischenmenschliche Beziehungen. Ihre Arbeiten erscheinen in Anthologien und Literaturzeitschriften, zuletzt bei DIOGENES, das Narr und Zwischentext. Als Mitglied des Künstlerkollektivs Krautzungen e.V. verbindet sie Sprache mit Bild und Ton und entwickelt performative Formate. 2025 ist sie Stipendiatin des Programms „Parents in Arts – Literatur“ der Arthur Boskamp-Stiftung.