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Artikel, Essay

Gespräche über Zeitlosigkeit, Sprachlosigkeit und vermeintliche Kinderlosigkeit

Katti Jisuk Seo

Als ich mich vor zehn Jahren gegens Kinderkriegen entschieden hab, hab ich mich wie eine Queen der Selbstbefreiung gefühlt. Nicht weil ich mich von Kindern frei gemacht hatte, sondern weil ich aus der gesellschaftlichen Deadline-Denke ausgebrochen war, die uns die sogenannte biologische Uhr auferlegt. Erst neulich habe ich dann aber gemerkt, dass ich mich längst in ein neues zeitliches Gefängnis begeben hatte — eines, das sich genauso eng anfühlte wie das alte. Und mit Hilfe meiner Freundinnen starte ich jetzt meinen nächsten Ausbruch.

Als ich mit Anfang Dreißig zu meiner Überraschung merkte, dass ich mir ein Leben ohne eigene Kinder vorstellen konnte und mich sogar riesig darauf freute, lag mir plötzlich die Welt zu Füßen. Auf einmal fielen tausend Meilensteine von mir ab, die ich mir anscheinend unbewusst gesetzt hatte: Spätestens mit Mitte Dreißig mit dem Babymachen anfangen! Bis dahin schaffen, genug Geld zu verdienen! Und meinem Partner das Kinderhaben überhaupt erst schmackhaft machen! Und meine Karriere so ins Rollen bringen, dass sie von alleine weiterrollt, wenn ich in Elternzeit gehe! Und außerdem noch ganz schnell klug werden, damit ich dem Kind seine Fragen beantworten kann!

OMG! Was für ein Druck auf mir gelastet hatte, merkte ich wie so oft erst, als er von mir abgefallen war. Und dann erstreckte sich vor mir eine wunderbar endlose zeitliche Weite. Ich hatte plötzlich das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Keine Dringlichkeiten, keine Deadlines mehr. Vor mir lag kein Zeitstrahl mehr, sondern einfach Oceans of Space. Wie wenn man aufs Tempelhofer Feld guckt.

Als ich dann in meinen Enddreißigern war, fragte mich eine Freundin, ob ich eigentlich immer noch entschieden bin, keine Kinder zu kriegen. Ich war gespannt, was mein Mund darauf antworten würde. Falls mein Innerstes doch heimlich einen Babywunsch hegte, den ich versehentlich verdrängt hatte, würde der sich nämlich genau jetzt panisch zu Wort melden. Jetzt, wo ich auf die Vierzig zugaloppierte. (Natürlich kenne ich genug Menschen, die auch über Vierzig noch gebären, aber diese Zahl war mir trotzdem als unterschwellige Grenze eingetrichtert.) Aber stattdessen meldete sich in dem Moment ein ganz anderer Gebärwunsch zu Wort. Ich merkte jetzt, dass die herannahende Vierzig in mir viel eher auslöste, dass ich ganz dringend mein Buch in die Welt setzen wollte. Diesen Wunsch so klar zu spüren, hat mich irgendwie energetisiert. Ich sah es schon ganz deutlich vor mir: In einem Jahr würde ich vor einer feierlichen Erdbeertorte sitzen, vierzig Kerzen auspusten, mich zugleich knackig und weise fühlen – und mein frisch erschienenes Buch in den Händen halten. Ich würde die Seiten wie ein Daumenkino durchflattern und den Geruch von weichem, frisch bedrucktem Altpapier inhalieren. Vierzig zu werden – und mein eigenes Buch in die Welt gesetzt zu haben! Ich konnte es kaum erwarten.

Mein vierzigster Geburtstag ist jetzt schon ein gutes Weilchen her. Spoiler: Ich hab an dem großen Tag kein fertig duftendes Buch in der Hand gehalten. Far from it. Stattdessen war ich mittlerweile innerlich vollkommen vom Schreibdruck zerfressen. Aber dazu später mehr. Erstmal zurück zum Thema Kinder.

Neulich hat ein Gespräch mit einer engen Freundin wieder ein paar Gedanken ins Rollen gebracht. Es war sommerlich lau und wir sind mit Negroni-to-go durch die Nacht flaniert. Sie erzählte mir, dass sie immer wieder eine Sorge bedrückt: Was würde mit ihrem Kind passieren, wenn ihr und ihrem Partner was zustößt? In welchen Händen würde sie ihr Kind dann am liebsten wissen? Und sie meinte, jedes Mal, wenn sie sich das fragt, landet sie in ihrer Fantasie bei mir. Wenn das Kind zu mir könnte, das würde sie beruhigen. Aber dann verwerfe sie den Gedanken immer gleich wieder und erinnert sich selbst daran, dass „Katti ja keine Kinder will“. Ich war gerührt und erstaunt. Unbedingt sehr gerne will ich mich in so einem Fall um ihr Kind kümmern! Überrascht hatte mich die Annahme meiner Freundin, dass ich keine Kinder will. Ja, in meinem Freund:innenkreis gelte ich als jemand, die sich für ein Leben ohne eigene Kinder entschieden hat. Und es ist verständlich, dass meine Freundin deshalb zu dieser Annahme kam und meinen Lebensweg respektieren wollte. Aber eigentlich stimmt das hinten und vorne nicht. Ich war schon immer davon ausgegangen, dass ein Kind auch von woanders zu mir kommen könnte, als ausgerechnet aus meinem Körper. Wir klärten den Irrtum und unsere Herzen fuhren vor Freude Karussell.

Dieses Missverständnis hat den Finger auf eine entscheidende Lücke gelegt: Wenn es um Konzepte von Eltern- und Kinderschaft geht, fehlt es an passender Sprache. Insbesondere dann, wenn Lebenswege abseits gesellschaftlicher Trampelpfade verlaufen. So habe auch ich in diesem Text manche Begriffe nur hilfsweise benutzt, wohlwissend, dass sie nicht das treffen, was ich eigentlich meine. Dass ich mir ein „Leben ohne eigene Kinder“ gut vorstellen kann — das ist einer von vielen Shortcuts, um mich schnell verständlich zu machen. Aber eigentlich fühle ich mich davon gar nicht angesprochen. Das Wort „eigene“ kreiert eine Hierarchie zwischen jenen Kindern, die aus meinem Körper kommen könnten versus denen, die auf andere Weise zu mir kommen. Von den Begriffen „leiblich“ und „biologisch“ ganz zu schweigen. Mit derlei unpoetischer Sortierung kann ich in diesem Kontext nicht viel anfangen. Auch mit dem überholten Begriff „kinderlos“ und dem vorwärtsgewandten „kinderfrei“ kann ich mein Leben nicht identifizieren, weil es im Gegenteil extrem kindervoll ist. Mit meinen Nichten und Neffen malen wir uns die Gesichter neonpink, singen Seemannslieder, spielen Mariokart und feiern und tanzen bis in die Puppen.

Die gängigen Begriffe lassen aber kaum Zwischenräume zu. Unsere Sprache verfestigt die binäre Denke und vice versa. So ist es kein Wunder, dass manche Mitmenschen aus meinem Lebensweg ableiten, dass Parenting für mich unter keinen Umständen in Frage kommt.

Dabei ist es eher umgekehrt. Die Entscheidung, keine Kinder aus meinem eigenen Körper heraus zu bekommen, ist mir gerade deshalb leicht gefallen, weil ich mir schon immer vorstellen konnte, Wahltöchter* oder —söhne* zu haben. (Auch hier mangelt es an passender Sprache. Wenn ich es genderübergreifend sagen will, wären es „Wahlkinder“, aber „Kinder“ ist ja synonym mit minderjährig, klein und jung und diese Assoziation finde ich oft unpassend.)

Ein paar Tage nach dem nächtlichen Negroni-Flaniergang mit meiner Freundin war ich mit Johanna, einer anderen engen Freundin, wieder am sommerlichen Kanal spazieren, diesmal mit tropfendem Pistazieneis und kühlender Capri Sonne. Ich erzählte Johanna von allen Gedanken, die durch das Gespräch mit meiner Freundin ins Rollen gekommen waren.

Im Gespräch mit Johanna erinnerte ich mich an einen Klick-Moment vor fast zehn Jahren. Damals hatte ich gerade mal wieder in einem meiner Lieblingsbücher geschmökert, 1913 – der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies. Illies nimmt uns in dem Buch in allerlei Vignetten von Künstler:innen, Denker:innen, Liebenden und Leidenden der damaligen Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit. An einer Stelle erwähnt er eine Person, die er uns ganz nebenbei als „eine von Lou Andreas-Salomés Wahltöchtern“ vorstellt. Als ich das damals gelesen hatte, fiel ein Riesenstück Druck von mir ab – der Druck, in naher Zukunft unbedingt ein Baby aus meinem Körper heraus in die Welt zu bringen. Lous sogenannte Wahltöchter hatten mich an das erinnert, was jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war, nämlich wie sehr ich zusammengewachsene Familien liebe, die nicht notwendigerweise „biologisch“ verwandt sein müssen. Ich selbst bin als Kind ganz eng mit meinem Bruder aufgewachsen, der mit dem zweiten Mann meiner Mama zu uns gekommen war, statt in die Familie hineingeboren zu werden.

An dieser Stelle übrigens auch nochmal ein Gedanke zum Thema Sprache. Obwohl mich Lou Andreas-Salomés Wahltöchter inspiriert hatten, passt der Begriff der „Wahl“-familie, -töchter, -söhne, -kinder für mich oft auch deshalb nicht, weil er sich nach einem so unorganischen Prozess anhört. Als ob ich in ein Geschäft gehe, wo ich mir ein paar Verwandte aussuchen kann. Dabei ist nach meiner Erfahrung Familie oft etwas Geschehendes und Zusammenwachsendes. Deshalb benutze ich auch diesen Begriff nur hilfsweise, als Shortcut. Jedenfalls erzählte ich nun also Johanna davon, wie sehr dieser Zeitdruck damals von mir gewichen war. Es war mir plötzlich leichtgefallen, den Weg ins sogenannte „kinderfrei“-Sein zu gehen, weil ich offen dafür war, dass Kinder auch auf andere Weise zu mir kommen könnten – falls es passieren soll und passt.

Daraufhin meinte Johanna zu mir: „Du hast dich also damals gar nicht gegen Kinder entschieden, sondern gegen die biologische Uhr.“ Und ja, das war eine richtig gute Erkenntnis.

Als ihre Worte in mich einsickerten, erinnerte ich mich plötzlich wieder daran, was für eine Zeitlosigkeit ich damals plötzlich empfand, als ich mich Anfang Dreißig entschieden hatte, wahrscheinlich keine Kinder aus meinem eigenen Bauch heraus zu bekommen. Ja, ich hatte mich von der tickenden Uhr losgesagt und vor mir erstreckte sich diese wunderbare zeitliche Weite, von der ich oben erzählt hab. Aber wo war die jetzt hin?! Sie war weg. Ich hatte irgendwie das Gefühl, sie verraten zu haben. Wo damals Oceans of Space waren, hatten sich längst wieder Druck und Dringlichkeit breit gemacht. Wann ist es denn dazu gekommen?

In Gedanken durchblätterte ich meine letzten Jahre. Und ja, da gab es diesen Moment, den ich vorhin hier erwähnt habe. Als ich den dringenden Wunsch spürte, noch vor meinem vierzigsten Geburtstag mein Buch zu gebären. Was mich im ersten Moment energetisierte, wurde später immer mehr zu einer Gefangenschaft im Hamsterrad. Als ob meine ganze Lebenserfüllung davon abhing, zu einem bestimmten Zeitpunkt X dieses und jenes geschafft zu haben. Was für ein Terror! Ich hatte mich von der Deadline-Denke des Kinderkriegens losgemacht und war längst wieder zur Gefangenen der Dringlichkeitskultur geworden. Wir leben in einem gesellschaftlichen System, das Urgency kultiviert und normalisiert. Deadline-Denke ist wesentlicher Bestandteil von Grindculture aka Hamsterradkultur.
Filme, Romane, Magazine sind voll von Erzählungen, in denen das Denken in Fristen die Norm ist. Vor dem dreißigsten Geburtstag einen Boyfriend finden, vor Jahresende hundert Bücher gelesen haben, bis zum Sommer eine Bikini-Figur haben, unbedingt irgendetwas geschafft haben, bevor der nächste runde Geburtstag kommt. Alter Schwede, da explodiert mir ja mein Puls. Und oft wird die Deadline so sehr zum Selbstzweck, dass wir leicht vergessen, worum es uns möglicherweise eigentlich ursprünglich ging. Ich will Bücher schreiben, weil ich mit der Welt im Austausch sein will, in Verbindung. Und nicht damit auf dem Buchrücken steht, Frau Seo hat es geschafft, ihr Buch pünktlich vor dem Älterwerden in die Welt zu setzen.

Johanna, dieselbe kluge Freundin, die anerkannt hat, dass meine Entscheidung nicht gegens Kinderkriegen sondern gegen die biologische Uhr ging, hat mir neulich erzählt, was sie an der Jahresendstimmung im Dezember so feiert: „Wenn das Jahresende vor einem liegt, merkt man, dass man eh nichts mehr reißen kann.“ und das mache vergnügt und locker und man könne sich einfach ins Leben schmeißen. Ich liebe das. Das Überschreiten künstlich gesetzter Deadlines darf ins Loslassen führen. Man kann die zusammengekniffenen Arschbacken jetzt einfach volle Kanne entspannen.

Diese Weisheit meiner Freundin hilft mir nun, aus dem neuen zeitlichen Gefängnis auszubrechen, in das ich mich begeben hatte. Mit der Jahresendstimmung meiner Freundin blicke ich gerne auf meinen großen runden Geburtstag zurück — an dem ich kein fertig geschriebenes Buch in der Hand hielt. Dem Universum schien das ohnehin völlig egal zu sein. Stattdessen überreichte mir meine Schwester ein viel bedeutungsvolleres Buch: ein pink-grün leuchtendes Poesiealbum, in dem sämtliche meiner Lebensbegleiter:innen gemeinsame Lieblingserinnerungen für mich festgehalten hatten. Wahnsinn.

Soviel zu what really matters in life.

Einmal habe ich meine Mama gefragt, wann sie sich entschieden hat, in Deutschland zu bleiben. Sie war in den Siebziger Jahren als Krankenschwester aus Südkorea nach Deutschland gekommen. Zuerst hatte sie nur vor, ein paar Jahre zu bleiben. Aber als ich sie das gefragt habe, lebte sie mittlerweile schon über dreißig Jahre in Berlin und hatte ihre vier erwachsenen Kinder hier, including me. Sie meinte zu mir: „Ich habe mich nicht entschieden! Ich habe mich nie entschieden, hierzubleiben oder zurückzugehen. Ich lebe einfach!“ Mama hat sich der binären Denke entzogen. Ich habe oft einen Ohrwurm von ihren Worten, wenn ich mich frage, ob der Begriff des Entscheidens überhaupt zu meiner Beziehung zum Kinderkriegen passt. Ich habe mich weder für noch gegen Kinder entschieden. Ich lebe einfach.

 

Katti Jisuk Seo, koreanisch-deutsche Kreuzbergerin, Autorin, Life & Business Coach, Schreibmentorin, Filmdozentin, große und kleine Schwester, Spaziergängerin, Feministin of Color, und Faulenzerin.
Sie hat in Gadigal (aka Sydney), Seoul, Istanbul und Tschechien gelebt. Katti studierte Geschichte an der Freien Universität Berlin und Drehbuch an der filmArche.
Katti schreibt Essays, Romane und Candy Dramen über das koreanisch-deutsche Aufwachsen in Berlin, Visionen eines urbanen Lebens ohne Rassismus, internationale Konversationen und das Versinken in lebensleckeren Mikro-Momenten.
2018 feierte ihr Dokumentarfilm *HOW ABOUT HAVING A FASCINATION OF MIND* über die Erstaunlichkeiten südkoreanischer Alltagskultur seine Weltpremiere auf dem Korea Independent Film Festival Berlin.

 

 

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