Liebe Du*,
*ja, DICH meine ich. Dich, wenn du dich fragst, ob du gemeint sein könntest.
Ich schreibe an dich als Mensch, als Freundin, als Mutter und Schwester, als Nachbarin, als Verbündete, als eine Bonus-Mutter, als Freiberufliche und Aktivistin, auch als Erschöpfte, als eine Bekannte, als Fachfrau und als Betroffene sexualisierter Gewalt.
Ich schreibe über meine Erfahrungen mit der Elternschaft nach sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend, damit du weißt, dass du nicht allein bist. Und Verbündete sein kannst.
Die Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat kürzlich den Abschlussbericht des Forschungsprojekts „Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend. Was bedeutet es, nach sexueller Gewalt in der Kindheit selbst Kinder zu haben und elterliche Verantwortung zu tragen?“ veröffentlicht. Darin sind Erfahrungen von über 600 Betroffenen beschrieben. Und auch daraus werde ich ein bisschen berichten. Damit du weißt, dass du nicht allein bist. Damit du anknüpfen kannst.
So wie es bei mir war, war es vielleicht auch bei dir. Oder ganz anders?
„Leib-los“ oder „Körper-arm“ war ich durch das Leben gekommen. Nur einen Kopf hatte ich. Und darunter nichts weiter ernst zu Nehmendes. Bis zu meiner Schwangerschaft. Da erwachte mit einer Wucht (m)eine Körperlichkeit, die mich völlig überforderte. Ich hatte keine Ahnung was da passierte, nur merkte ich, dass es mir nicht gut ging. Mit der ständigen Präsenz meines Körpers, mit der Angst und dem Kontrollverlust auf so vielen Ebenen. Mein Körper hatte einen eigenen Plan, meine Zukunftspläne waren nicht mehr absehbar, das Ausliefern an Ärzte, Kliniken und sonst wem machten mich hilflos. Ich wechselte die Hebamme, wechselte die Gynäkologin, wechselte die Geburtsklinik. Überall um mich herum Berufs-Schwangerschafts-Profis; und doch konnte mir niemand die Worte geben, die mir für all diese Empfindungen fehlten. Keinen Anker-Menschen fand ich, der mir mein Trauma erklärte und mich stabil durch dieses Chaos begleiten konnte. Und ich selbst hatte damals gar keine Idee, was der Ursprung sein könnte dafür, dass es sich weniger so anfühlte, wie einem Schwangerschaft suggeriert wird – und wie ich sie mir gewünscht hätte. Hochglanz-Glück… Für mich gehörten da tiefe Gefühle von Unsicherheit, Scham und Traurigkeit, Angst, Ohnmacht und auch Wut dazu, mit denen ich nicht gut an die Erzählungen rund um Schwangerschaft und Geburt andocken konnte.
Nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, ob die erlebte sexualisierte Gewalt einmal einen Einfluss auf meine mögliche Elternschaft haben könnte. Und damit bin ich nicht allein. Vielleicht ging es dir auch so? Oder war es genau andersrum? Hast du dich überhaupt bewusst für oder gegen eine Schwangerschaft entschieden oder entscheiden können? Für oder gegen eine Elternschaft ohne Schwangerschaft? Manche Körper haben so unter der Gewalt gelitten, dass sie gar nicht schwanger werden können. Manche wollen die Körperlichkeit nicht, aber doch das Begleiten von Kindern leben. Viele Menschen machen sich sehr lange Gedanken darüber, ob sie überhaupt Eltern werden wollen oder können, weil sie sexualisierte Gewalt erlebt haben. Und entscheiden so oder so oder gar nicht. Und die Zeit vergeht.
Themen, die bei Betroffenen in der Studie im Zusammenhang über das Nachdenken über Elternschaft eine Rolle spielen waren z.B. Sorgen um die Sicherheit der Kinder. Fragst du dich auch, ob und wie du ein kleines Wesen gut beschützen kannst? Gibt es Täter in deiner Familie, vor denen du dein Kind schützen möchtest? Oder hast du Zweifel daran, ob du ein gutes Elternteil sein kannst? Fragst du dich vielleicht, wie du für ein Kind sorgen kannst, wenn du es selbst nicht erlebt hast, wie es gut geht? Fragst du dich, ob du selbst (sexualisierte) Gewalt anwenden wirst? Die Sorge, selbst zur Gefahr für die Kinder zu werden kann aufkommen. Damit bist du nicht allein! Vielleicht besteht deshalb oder aus anderen Gründen der Wunsch erst einmal abzuwarten und aufzuarbeiten, bevor man die Entscheidung für Elternschaft treffen möchte. Oder dagegen. Und vielleicht bestehen ja auch Schwierigkeiten mit Partnerschaften, was ein Hindernis für einen Kinderwunsch sein kann. Oder ist es anders und du hast den Wunsch nach einer eigenen Familie, spielst mit den unterschiedlichen Formen von Elternschaft, möchtest dir die Freude am und mit dem Leben nicht nehmen lassen? All diese Fragen beschäftigen viele Betroffene. Dich auch? Oder nicht? Du bist nicht allein!
Was ist zum Beispiel mit dem Geschlecht eines Kindes? Ist oder war es ein Thema für dich? Ich war damals einfach erstmal sicher, dass ich einen Sohn bekommen werde. Das konnte ich mir einfach besser vorstellen. Es hatte weniger mit mir zu tun. Mit meiner Geschichte, mit meinem Körper mit meiner Rolle in der Gesellschaft. Ich hatte irgendwie auch Angst, die Mutter eines Mädchens zu werden, deren Schwäche ich sehen und deren Leid ich mitfühlen würde. Ich wollte nicht, dass mein Kind so traurig wird, wie ich es war. Anderen Frauen geht es genau andersherum. Sie fühlen sich durch ihre Söhne erinnert an einen Täter. Oder haben die Frage: wie erziehe ich einen Sohn so, dass er nicht zum Täter wird?
Als die Ärztin mir bei einer Vorsorge sagte, dass mein Kind im Bauch ein Mädchen ist, da war es plötzlich ein unglaublich riesiges Glücksgefühl. Und ab der Sekunde hätte ich es mir nicht mehr anders vorstellen können. Witzige Kehrtwende. Und ich glaube durch dieses Mama-einer-Tochter-sein, habe ich viel Chance für Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend bekommen.
Und auch wenn ich diesen Nachdenk-Prozess erst durch und nach der Schwangerschaft in diesem Zusammenhang überhaupt betrieben habe (betreiben musste?), so darf ich sagen: ich habe viel gelernt. Über mich und das Leben. Wenn ich heute all diese Berichte von anderen lese, denen es ähnlich ging und geht, dann wünsche ich mir, dass wir dieses Wissen noch mehr in unsere Welten sprechen. Dass wir von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen und auch unsere Kinder besser durch die transgenerationalen Trauma- Wogen tragen können. Und jede ihren Platz finden kann. Nicht allein, sondern im geteilten Leid und auch in geteilter Freude. Ich denke, wir sind so viele Menschen, die ein ganz besonderes Interesse an dem glücklichen Aufwachsen von Kindern haben. Weil wir selbst wissen, was missbrauchtes Vertrauen bedeutet. Und gleichzeitig werden wir natürlich unsere Fehler machen. Vor einer Elternschaft, während einer Schwangerschaft, im Eltern-Sein und ohne Eltern zu sein. Trotzdem… meinst du, dass die eigene Gewaltbetroffenheit vielleicht manchmal hilfreich sein kann?
Als ich Stück für Stück klar hatte, dass meine Tochter meinen Schutz braucht und ich gar nicht richtig gelernt hatte, was oder wer gut und schützend ist und vor allem was und wer es nicht ist- da ist in mir eine Löwin gewachsen. Ich kannte sie bis dahin nicht gut, aber sie war da. Hatte die ganze Zeit ruhig gewartet, bis in meinem Leben diese Fragen dran waren. Und dann fing sie an laut und lauter zu brüllen. Nicht gegen mich. Sondern für uns. Für Schutz, für Sicherheit, für Vertrauen, für Liebe, für Grenzachtung, für gesunde Nähe und erlaubte, willkommene Distanz. Für Respekt, für Freiheit, für Grenzen. Und Monat für Monat, und Jahr für Jahr lerne ich besser, wer diese Löwin stärken und wer sie schwächen kann.
Es ist längst nicht alles gut. Und schon gar nicht gut gegangen. Ich habe nach neuen Vorbildern gesucht und möchte selbst eins sein. Bin gespannt auf die Zeiten, in denen ich mehr und mehr auch mit meinen Kindern über die Bedeutung von sexualisierter Gewalt in unseren Leben sprechen werde. Ich bin noch nicht fertig, aber ich habe Vertrauen gewinnen können. Und atme.
Wo auch immer du gerade bist, was auch immer dich im Zusammenhang mit Elternschaft nach sexualisierter Gewalt beschäftigt- du bist damit nicht allein. Vielleicht ist es hilfreich für dich von anderen zu lesen. Oder in einem geschützten Raum darüber zu sprechen. Das ist zum Beispiel in einer Fachberatungsstelle oder telefonisch oder online, und alles auch anonym möglich. Schau, wenn du möchtest, im Hilfeportal Sexueller Missbrauch vorbei.
Und vielleicht ist es einfach auch nur heilsam und gut zu wissen, dass du Teil unserer gemeinsamen Geschichte bist. So wie es ist.
Ich reiche dir die Hand und wünsche dir von Herzen alles Gute!
Catharina
Catharina Krämer (1984) hat Erziehungswissenschaften und Erwachsenenbildung studiert. Seit 2010 ist sie ehrenamtlich, angestellt oder freiberuflich gegen sexualisierte Gewalt unterwegs. Von 2015-2019 war sie Mitglied im ersten Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM) und als Referentin war sie für Innocence in Danger, die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt (DGfPI) und das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG ehemals BZgA) tätig. Mittlerweile arbeitet sie ausschließlich freiberuflich und bundesweit unter dem Titel „macht.Solidarität!“ und engagiert sich ehrenamtlich im Vorstand des bundesweiten Betroffenenetzwerks aus-unserer-sicht e.V.
Sie lebt mit ihrer Patchwork-Familie in Berlin.
Klara Simon führt seit Januar 2024 Mein Grundeinkommen als Vorstandsvorsitzende.
Die 37-Jährige ist in Mecklenburg aufgewachsen. Heute lebt und arbeitet Klara mit ihrem Mann, ihrem Bonus-Sohn und ihrem Sternenkind in Berlin. Nach dem Studium der Politik, Literatur und Philosophie in Bremen, Halmstad und Frankfurt (Oder) hat sie ihren Platz an der Schnittstelle von Forschung, Kunst und kollektiver Organisation gefunden. Als Mitbetreiberin des Berliner Kulturortes „Mensch Meier“ prägte sie über viele Jahre Strukturen, Prozesse und künstlerische Formate – zwischen Zahlenkolonnen und der Idee, wie Arbeit und Leben gerechter gestaltet werden können.