Zur Startseite
Zur Startseite
Zur Startseite
Artikel, Essay

Auch eine von denen

Von Abbrüchen, Abschieden und wie das Leben sowieso seine eigenen Pläne hat
Lu

Content note: in diesem Beitrag werden Schwangerschaftsabbrüche und Frühgeburten verhandelt, außerdem Rassismus und Klassismus im medizinischen System. Und Hoffnung und Solidarität.

 

2006

Als ich 16 Jahre alt bin lerne ich einen Jungen kennen. Er ist 19, kommt, wie ich, nicht aus Berlin, aber auch aus dem Osten. Er kommt aus Halle, ich komme aus Leipzig. Wir werden ein Paar, zumindest für ein paar wenige Monate. Er ist groß, hat kinnlange braune Haare, ein schönes Gesicht, spielt Gitarre und ist abhängig von Crystal Meth. Letzteres ist auch der Grund für unsere Trennung. Er hatte mir versprochen keine Drogen mehr zu nehmen und tat es doch. Ganz voneinander lassen können wir aber trotz Trennung nicht, wir haben noch Kontakt und einmal gehen wir noch miteinander ins Bett. Es ist das eine Mal, das den größten Schatten werfen wird. Ein paar Wochen später nämlich sitze ich vor einem positiven Schwangerschaftstest. Fuck. Das war so nicht geplant und vor allem auch nicht gewollt. Ab diesem Moment geht es mir körperlich schlecht. Hyperemesis gravidarum, wie ich Jahre später lernen werde. Als ich meinem Exfreund von der Schwangerschaft erzähle sagt er: „Nur, dass du es gleich weißt: ich bin dagegen!“ – dieser Satz ist auch noch 19 Jahre später in mein Hirn eingebrannt. Es ist dieser eine Satz, den ich ihm niemals verzeihen werde. Ab dann treffe ich alle Entscheidungen allein. Ich organisiere mir einen Termin in einer gynäkologischen Praxis zur Feststellung der Schwangerschaft, einen Termin für das Pflichtberatungsgespräch, den OP-Termin in einem ambulanten Operationszentrum. Alles in Leipzig, denn ich will hier in Berlin keine Orte mit dieser Zeit verbinden. Ich will das nicht. Nichts soll in mir wachsen, nichts soll durch mich geboren werden, es soll einfach nur vorbei sein. Ich denke an die Ärztin, die den Ultraschall machte, daran, dass sie verständnisvoller wirkte als ich ihr erzählte, dass ich gerade in der 11. Klasse sei und Abitur machen will. Schon damals habe ich mich gefragt, wie ihre Reaktion ausgefallen wäre, hätte ich gesagt, ich steckte in irgendeiner Ausbildung. Im Rückblick mein erster auch von mir realisierter Kontakt mit Klassismus.

Der Eingriff und die Tage danach verblassen mit jedem Jahr ein bisschen mehr. Heute erinnere ich mich vor allem an die hellgrün leuchtenden Blätter der Bäume im April, als ich nach Berlin zurückkomme. Unschwanger, blutend, mitten in der Milchproduktion für ein Kind, das es niemals gab. Irgendwann haben Blut und Milch ein Ende und ich bin froh darüber, weil die Kombination aus Physikunterricht und dem spitzen Ziehen in meiner Brust für mich nur schwer zu ertragen ist. Ich bin traurig. Darüber, dass alles so gekommen ist, dass meine erste Schwangerschaft so ungewollt war, dass ich diese Entscheidung unter so einsamen Umständen treffen musste und dass ich mich schäme, nun auch zu „denen“ zu gehören. Ich bereue es nicht und trotzdem wird vor allem die Scham lange bleiben. Es ist der Moment, in dem ich beschließe, dass ich das nicht noch einmal durchleben möchte. Dieses eine Mal ist geschehen, kein weiteres soll folgen.

2014

Ein Tag im Mai. Der positive Schwangerschaftstest ist noch feucht, die zweite blasse rosa Linie lügt nicht. Egal wie oft ich sie betrachte. Eigentlich könnte das ein Grund zur Freude sein und wenn ich alle Umstände ausblende, dann merke ich die winzigen Endorphinrinnsale in meinen Gefäßen. Hole ich mich selbst zurück in die Realität versickern sie sofort. Mein Partner und ich sind zu diesem Zeitpunkt gerade erst aus einer Krise herausgekommen, wir waren getrennt, haben wieder zueinander gefunden. Wir wollen diese Beziehung, wir wollen uns und irgendwann einmal auch Kinder. Nur eben noch nicht jetzt. Alles ist noch zu fragil, unsere neu erweckte Beziehung ebenso wie unsere Zukunft. Doch dieses Mal muss ich keine Entscheidung allein treffen. Stattdessen gehen wir diesen Weg gemeinsam. Zu meinem Arzt, zur Pflichtberatung. Zum Eingriff bringt er mich, wartet, holt mich ab. Ich bekomme auf diesem Weg keinen einzigen Vorwurf, meine Entscheidung wird nicht bewertet, stattdessen kümmert man sich um mich und hilft mir da, wo ich es brauche. Selbst die Frau bei der Krankenkasse, bei der ich wegen einer Kostenübernahme vorstellig werde, zögert keine Sekunde als sie mein Anliegen hört. Sie schaut mich ermutigend an und wünscht mir alles Gute. Ich bin nicht esoterisch, nicht gläubig und trotzdem bitte ich um Entschuldigung bei diesem 8 Wochen alten Embryo und verspreche ihm, dass seine Zeit irgendwann kommen wird. Als Paar beschließen wir, dass wir uns noch etwas mehr Zeit geben, dass wir in einem Jahr etwa ernsthaft darüber sprechen, wann wir gemeinsam Eltern werden wollen. Diese Erfahrung heilt mich von meiner ersten und die Scham verfliegt. Auch dieses Mal bereue ich nicht, sondern bin dankbar und froh darüber, dass ich die Chance hatte, einfach eine medizinische Leistung in Anspruch zu nehmen, als ich sie wirklich brauchte. Ich bin zuversichtlich.

2016

Im Februar werde ich schwanger. Geplant und gewollt. Mein Partner und ich sind aufgeregt, ab jetzt beginnt etwas Neues, etwas Großes, nichts wird danach jemals wieder so sein wie vorher. Doch erstmal geht es mir schlecht. Lähmende Übelkeit macht es mir schwer, meiner Arbeit als Einzelfallhelferin nachzugehen oder in der Uni den Vorlesungen und Seminaren zu folgen. Ich probiere alles aus, was mir Linderung verspricht. Nichts hilft auf Dauer. Manchmal muss ich weinen, weil ich nicht weiß, wie ich den Tag im Wachzustand überleben soll.
Für Menschen, die das noch nicht erlebt haben, ist das nicht vorstellbar. Ich fühle mich elend und krank, kann manchmal nicht sprechen vor Übelkeit, ich bin blass und müde, weil es mir permanent an Energie fehlt. Gleichzeitig bekomme ich statt Hilfe von meinem Gynäkologen nur Aussagen wie „Tja, so ist das in der Schwangerschaft.“. An einem der besseren Tage besuchen wir meine Schwiegereltern in ihrem Schrebergarten. Als ich meiner Schwiegermutter davon erzähle, dass ich schon die ersten Bewegungen spüren kann, werden ihre Augen feucht. Sie freut sich so sehr. Auf dem Heimweg dann setzen die Krämpfe ein und ich kann sie nicht richtig deuten, denke, ich hätte einfach Blähungen.
In der Nacht werde ich einmal kurz wach vor Schmerz, aber er hört plötzlich auf und ich schlafe wieder ein. Am nächsten Morgen auf der Toilette sehe ich das Blut. Wir fahren sofort in die Klinik. 17. Woche. Zu früh für alles und doch eigentlich auch zu spät, oder? Ich dachte, vor allem die ersten 12 Wochen wären so kritisch? Was passiert gerade? Es ist Sonntag. Nach der ersten Untersuchung steht fest, dass ich dableiben muss. Meine Entzündungswerte sind hoch, weswegen ich ein Antibiotikum bekomme, danach heißt es abwarten. Trotz des Antibiotikums wird es nur schlimmer. Ich habe stundenlang schmerzhafte Wehen, ich blute durchgehend, habe Angst. Mein Partner ist bei mir, er will helfen, fragt mehrmals nach etwas gegen die Schmerzen, nach Hilfe. Stattdessen aber sagt ihm ein Arzt, dass man eben nichts tun könne.
Einzig eine Krankenpflegerin sieht, wie schlecht es uns geht. Sie gibt mir ein stärkeres Schmerzmittel. Es hilft und ich kann kurz ruhen. Sie spricht ruhig und in einem sehr mütterlichen Ton mit mir. Jede Ultraschallkontrolle zeigt einen vitalen Fötus, jedes Mal ein bisschen Hoffnung. Am Dienstag dann passiert es. Ich bin gerade allein und um 17.08 Uhr schreibe ich meinem Partner: „geht wieder los“. Er und seine Mutter kommen sofort zu mir. Die Wehen sind fast nicht auszuhalten, ich weine und krümme mich, während dieser scharfe Schmerz mich foltert. Irgendwann ein Knacken, ich liege in einer Pfütze, das Hosenbein meines Partners, der die ganze Zeit neben mir sitzt, ist nass. Das war’s. Im Ultraschall ist nichts zu sehen, die Ärztin spricht ruhig und sagt mir, sie dürfe das Baby – so habe ich es noch nie genannt – nicht einfach so herausziehen. Ich schiebe ein einziges Mal mit und unser Sohn wird geboren. Er passt in eine Hand, seine Haut ist halbtransparent, er hat noch keine Haare, aber jetzt schon die Finger und das Gesicht seines Vaters. Er war so gewünscht, er sollte sein und ist doch nie geworden.

In dieser Nacht bekommt mein Partner ein eigenes Bett zu mir ins Zimmer, wir essen bestellte Nudeln, betrachten unser schönes Kind und nehmen Abschied. Drei Wochen später beerdigen wir ihn auf einem Friedhof in Schöneberg. Auf dem Hügel des Geländes gibt es den sogenannten „Garten der Sternenkinder“, dort ist es bunt, überall stehen kleine Windräder und oft nur ein Datum auf den kleinen Namensplaketten. Es ist Juni, die Sonne scheint, Frühling. Schon wieder.

2017

Nach der Fehlgeburt sollen wir ein halbes Jahr warten bis wir wieder versuchen schwanger zu werden. Es klappt direkt beim ersten Versuch und wir freuen uns, leise diesmal und vorsichtiger. Wieder geht es mir nicht gut, aber mittlerweile habe ich von einem Medikament erfahren, das hilft. Alles entwickelt sich gut, wir fühlen uns langsam sicher. Bei der Feindiagnostik in der 23. Woche dann starrt uns auf dem großen Bildschirm an der Wand dieser schwarze Krater an, der da überhaupt nicht sein sollte. Die ruhige Ausstrahlung der Gynäkologin ist verschwunden. „Sie fahren jetzt sofort ins Perinatalzentrum, die sind für so kleine Kinder ausgestattet. Die nächsten 8 Wochen sind kritisch, die gilt es jetzt erstmal zu überstehen.“, sagt sie, während sie hektisch eine Überweisung schreibt. Im Taxi zum Klinikum weine ich tonlos. Es reicht, ich kann und will das nicht nochmal durchmachen müssen. Wieder eine Klinik, wieder muss ich dortbleiben. Zervixinsuffizienz, drohende Frühgeburt. Im zwei Wochen Turnus werde ich damit vertröstet bald nach Hause zu können. Das Kind in mir wächst und gedeiht, genauso wie mein Trauma. Beides genährt vom miserablen Klinikessen. Meine Zimmernachbar*innen kommen und gehen, bald kenne ich fast das ganze Personal. Nach zwei Monaten wird eine Frau meine Zimmernachbarin, mit der ich noch heute befreundet bin. Wir lachen viel und lernen unfreiwillig den sich ständig wiederholenden Speiseplan auswendig.
Als Schwarze Frau bin ich in dieser Zeit auch immer wieder Rassismen ausgesetzt, nicht zuletzt vom Chefarzt persönlich. Dieser empfiehlt mir zum Beispiel, doch einfach auf der Station einen Gospelchor zu gründen, wenn mir langweilig sei.
Patient*in zu sein bedeutet auch, ausgeliefert zu sein. Das lerne ich in dieser Zeit nur zu gut und verinnerliche es so sehr, dass diese Erfahrung noch heute in meiner eigenen Arbeit eine große Rolle spielt. Wer von mir betreut wird, darf darauf vertrauen, dass ich immer versuche, den größtmöglichen Safe Space zu kreieren. Jeder Körper darf sein, jede Sexualität, jede Herkunft, jede Geschichte, jede Familienkonstellation wird erst einmal nicht bewertet. Aber sie wird beachtet und dient mir als Orientierung dafür, was gerade gebraucht wird und wie es gemeinsam möglich ist, gut zusammenzuarbeiten und informierte Entscheidungen treffen zu können.
Nach knapp drei Monaten darf ich nach Hause, es ist Montag. Sonntagnacht darauf fahren wir in den Kreißsaal, weil die Wehen eingesetzt haben. Ich bin jetzt in der 34. Woche und es darf losgehen. Am Abend nach langen 36 Stunden Wehen wird unser Kind geboren, es schreit kräftig, ist rosig und hat ganz dunkle Haare. Ja, es ist klein und hätte noch gerne einige Wochen länger auf sich warten lassen können, aber es lebt. Endlich. Es ist wieder Juni, ein neuer Frühling.

2021

„…ja und jetzt wollte ich mal nachschauen lassen, ob alles da ist, wo es sein s oll.“, schnaufe ich, während ich mich hinter dem Vorhang ausziehe. „…und wie viele es sind.“, scherzt meine Gynäkologin. Es ist dieselbe, die mich 2016 in der Klinik zuallererst untersucht hat. Ich bin 2017 in ihre Praxis gewechselt, nachdem ich mich bei meinem alten Arzt nicht mehr gut betreut gefühlt habe. An ihren erleichterten Blick als sie damals das agile Baby auf meinem Arm sieht, erinnere ich mich noch gut. Sieht blickt auf den Bildschirm neben mir und sagt: „Oh. Gucken Sie mal.“ Tatsächlich ist dort in Schwarzweiß nicht nur eine Fruchthöhle mit winzigem Embryo zu sehen, sondern gleich zwei. Zweimal das gleiche schwache Flackern eines rudimentären Herzschlags. „Okay.“, sage ich. Mehr nicht. Wir müssen beide kurz unsere Überraschung verarbeiten. Nach dem Termin stehe ich vor der Praxis und muss erstmal lachen. Zwillinge. Dieses Mal wird nichts schiefgehen, beschließe ich. Mittlerweile bin ich im 2. Jahr meiner Hebammenausbildung, ich weiß jetzt so viel mehr, man nimmt mich ernster als früher, weil ich eher als Kollegin denn als Patientin betrachtet werde. Ein schmerzliches Privileg.
In der 14. Woche werde ich operiert und bekomme einen frühen totalen Muttermundverschluss, um einer erneuten Zervixinsuffizienz vorzubeugen. Ich nehme an den Theorieblöcken meiner Ausbildung weiterhin teil und fühle mich wach und lebendig. Auch dieses Mal leide ich unter Hyperemesis, was sich aber wieder medikamentös in Grenzen halten lässt. Es ist Donnerstag, noch mitten in der Nacht, aber die Wehen sind keine Übungswehen mehr. 35. Woche. Meine Schwiegermutter kommt, um auf unser großes Kind aufzupassen. Es dauert auch hier wieder eine Weile, aber es gibt keine Eile. Das CTG ist gut, die Zwillinge sind nicht gestresst, die PDA, welche ich für die Eröffnung des Muttermundverschlusses brauchte, sitzt perfekt, ich bin mobil. Wir schlafen noch eine Nacht im Kreißsaal, hören zum Frühstück den Soundtrack von „Hamilton“ und zwischen den Wehen singe ich mit. Am Nachmittag dann werden meine beiden jüngsten Kinder geboren. Zart sind sie, wie kleine Küken, die aus dem Nest gefallen sind. Es ist Freitag der 13., ein warmer, wunderbarer Tag im Sommer.

Ich wünsche mir manchmal, dass meine Geschichte eine andere ist. Eine leichtere und unkompliziertere, die schnell und ohne Trauer zu erzählen ist. Natürlich könnte ich auch einfach davon berichten wie viel ich aus allem gelernt habe – und das stimmt auch. Das alles hat mich sehr geprägt, es beeinflusst, wie ich meine Kinder sehe und beim Aufwachsen begleite, wie ich meine eigene Arbeit als Hebamme gestalte, wie ich Menschen gegenübertrete, wie ich trauere. Aber das ist nur die eine Hälfte. Die andere sehnt sich nach einer Vergangenheit ohne Schwere.
Heute bin ich Mutter von drei Kindern und meinem Körper, egal wie ich sonst zu ihm stehe, dankbar, dass er mir diese Kinder so wunderbar zusammengebaut hat. Ich wünsche mir sehr, dass die reproduktive Zukunft meiner Kinder sich offener und klarer gestaltet. Doch wie auch immer sie aussehen mag, ich werde da sein und sie bei allem unterstützen, wohlwissend, welchen Schmerz das Gegenteil verursachen kann.

Lu ist eine Schwarze, ost-sozialisierte Frau und Hebamme. Mit ihrem Partner und drei Kindern lebt sie in Berlin. Vor der Hebammenausbildung studierte sie u.a. Sozialwissenschaften, sie versteht sich als intersektionale Feministin. Ihre Wut über herrschende Zustände ist ihr Motor und sie wünscht sich, dass es mehr Menschen ähnlich geht, damit wir gemeinsam ein gutes Leben für alle möglich machen.

Beiträge