Johanna: Helen, meine Liebe, danke fürs Eröffnen des Signal-Kanals! Du hast mir am Dienstag eine Nachricht geschickt und ich hatte versprochen, dir eine erste neugierige Frage zu schicken – eigentlich keine große Aufgabe für mich! Trotzdem schaffe ich es erst jetzt, am Freitag, mir einen ruhigen Moment zu nehmen, um diese Nachricht zu formulieren. Das ist doch verrückt! Wir haben uns nach einigen Anläufen dazu entschlossen, uns per Chat auszutauschen, weil wir einfach keinen Termin finden konnten, um gemeinsam zu sprechen. Wir wollten zusammen darüber nachdenken, wie sich unsere Zusammenarbeit bei disruptiF und unsere Freundinnenschaft in den letzten Jahren verändert hat – seit bei dir Kinder dazugekommen sind, seit ich freiberuflich arbeite und seit du aus Berlin nach München gezogen bist. Ich finde, das wirft schon die zentrale Frage auf – warum haben wir gefühlt immer zu wenig Zeit?
Liegt es an meinem Zeitmanagement oder daran, dass ich mir einfach zu viele Aufgaben aufhalse? Ständig habe ich das Gefühl, zu spät dran zu sein, nicht hinterherzukommen oder jemanden warten zu lassen. Dabei möchte ich eigentlich nur neben meiner Lohnarbeit noch Zeit mit meinen Freund*innen verbringen, unsere Wohnung einigermaßen ordentlich halten, Sport machen und mich politisch engagieren. Ich frag mich auch, wie andere Menschen ihren Alltag hinbekommen. Besonders dann, wenn sie sich nicht, wie ich, nur um sich selbst und andere Erwachsene kümmern, sondern auch um Kinder. Das finde ich wirklich immer sehr beeindruckend. Und ich dachte, das wäre eine gute erste neugierige Frage an dich: Wie schaffst du es eigentlich, alles unter einen Hut zu bekommen – deinen neuen Job, die Kinder, Zeit für dich und dann noch disruptiF?
By the way, ich finde es sehr cool, dass wir uns für die Form des neugierigen Fragens entschlossen haben! Viel zu oft haben wir Annahmen übereinander und fragen gar nicht genau nach.
Helen: Liebe Johanna, ich freue mich auch sehr, dass wir uns endlich mal zu den Themen Zeit, Arbeit, Kinder und zu unserer Freundschaft austauschen können. Dann lass uns loslegen! Die Frage, die du mir gestellt hast, stelle ich mir auch oft. Also die Frage, wie wir als Eltern eigentlich den Alltag hinkriegen, ohne Großeltern und Babysitter.
Wie viele Menschen mit kleinen Kindern plane ich meinen Tag in Care-Routen: Ich überlege schon morgens, was ich am Tag alles erledigen muss, und wie ich das logistisch am Besten hinbekomme. Ich reihe alle Erledigungen im Kopf wie eine Kette aneinander und wäge ab, auf welchen Wegen ich am effizientesten alles abarbeiten kann. Zum Beispiel, indem ich morgens auf dem Weg zur Arbeit noch beim DHL-Shop vorbeifahre, um ein Päckchen mit Kinderkleidung abzuholen, nach der Arbeit noch kurz beim Bäcker und danach bei DM stoppe, um Windeln in den Fahrradkorb zu werfen und dann schnell zur Kita zu radeln. Der Alltag ist also ein ständiges Abstecken von möglichst effizienten Wegen, um alle Erledigungen in möglichst kurzer Zeit unterzubringen. Das bedeutet auch, ständig mitzudenken und oft gehetzt unterwegs zu sein, weil sonst wieder niemand das Arztrezept abgeholt oder Klopapier gekauft hat. Bei vier Personen im Haushalt ist einfach ständig irgendwas zu tun.
Das alles finde ich oft anstrengend, die Planung, die Erledigungen unter großem Zeitdruck. Und das, obwohl wir den Luxus haben, Teilzeit zu arbeiten. Das ist sicher ein Grund, warum wir den Alltag halbwegs gut schaffen. Möglich ist das nur, weil wir als Paar beide zwei halbwegs gut bezahlte Jobs haben. Wir leisten es uns, beide jeweils „nur“ 28 Stunden pro Woche in Teilzeit zu arbeiten. Die Teilzeitarbeit ermöglicht uns etwa, dass wir beide am Freitag keine Lohnarbeit machen. Unsere Kinder können, wenn ihnen die Kitawoche zu viel war, freitags mit uns zu Hause bleiben. Wenn sie in die Kita gehen, können wir putzen, aufräumen und Erledigungen machen. Die Frage ist also noch vielmehr, wie Eltern den Alltag schaffen, die alleinerziehend sind. Oder Menschen, die einen Vollzeitjob haben oder sogar mehrere Jobs, weil sonst das Geld nicht reicht. Die selbst krank sind oder ein krankes Kind pflegen. Teresa Bücker erklärt in ihrem Buch „Alle_Zeit“, dass es viel mit Klasse und Herkunft zu tun hat, wie viel wir selbst über unsere Zeit bestimmen können. Ich nehme es auf jeden Fall auch so wahr, dass ich mir nur aufgrund des Gehalts immerhin diese kleinen Freiräume erlauben kann. Das ist natürlich absolut ungerecht mit Blick auf Personen, die ebenfalls mehr selbstbestimmte Zeit bräuchten, um alles zu schaffen, und sich diese nicht nehmen können.
Und trotzdem bleibt es stressig. Die ehrliche Antwort auf die Frage, wie ich das alles schaffe, ist: Es klappt mal mehr und mal gar nicht gut. Krankheiten verschleppe ich manchmal über mehrere Wochen, weil eine gute Selbstfürsorge im Alltag nicht genug Platz hat. Die vereinbarte Arbeitszeit in meinem Job zu schaffen, klappt an manchen Tagen, an anderen nicht. Ich habe mehr mit Unter- als mit Überstunden zu kämpfen. Seit ich Kinder habe, bin ich stellenweise unzuverlässig geworden. Ich verschleppe Aufgaben, die ich zugesagt habe, etwa bei disruptiF. Rufe Freund*innen nicht zurück. Öffne Briefe tagelang nicht, vorausahnend, dass sie etwas beinhalten, das Zeit erfordert (etwa eine Rechnung, die ich bezahlen muss, oder ein Formular, das ich ausfüllen soll). Zeit, die ich nicht habe, oder Energie, die mir abends, wenn die Zeit da wäre, ausgeht. Und ich kümmere mich viel weniger um Familie oder Freund*innen, denen es nicht gut geht, wegen Long Covid, Liebeskummer oder Jobverlust und Lebenskrisen. Weil ein großer Teil meiner Energie und meiner emotionalen Zuwendung an die Kinder geht. Wenn ich drei Wutanfälle am Tag begleitet habe, will ich abends lieber fernsehen als mich weiter um andere zu kümmern, so traurig das klingt.
Als wir zusammen disruptiF gegründet haben, wollten wir vor allem eines: Gemeinsam arbeiten, in besseren Strukturen als jenen, die wir in der Arbeitswelt schon kennengelernt hatten. Wir wollten feministische Strukturen schaffen, solidarische Wege von Finanzierung und Entscheidungsfindung. Unsere Themen und der Verein wie auch ihr Kolleg*innen seid mir extrem wichtig. Trotzdem fallen in meinem durchgetakteten Alltag die Vereinsangelegenheiten als erstes hinten runter, wenn zeitlich nichts mehr geht. Das stimmt mich einerseits traurig. Andererseits kann ich auch akzeptieren, dass ich begrenzte Zeit und begrenzte Energie habe. Hieran anschließend stelle ich dir eine erste Frage in diesem Austausch: Seit wir uns als Verein zusammengefunden haben, haben mehrere Kolleginnen Kinder bekommen. Das hat unsere Zusammenarbeit auf jeden Fall stark verändert. Du übernimmst an vielen Stellen in deinem Alltag Sorgearbeit für andere Menschen, für Familienmitglieder, Freundinnen, und auch die Kinder von Freundinnen. Zugleich leben bei dir im Haushalt keine Kinder, die von dir abhängig sind, von deiner Zeit, deiner Aufmerksamkeit, und deiner Fürsorge. Und du erlebst, wie sich bei uns allen, die wir Kinder bekommen haben, der Alltag stark verändert hat, und auch die Zusammenarbeit. Wie nimmst du diese Veränderung wahr? Was hat sich für dich in der Zusammenarbeit verändert, seit es so viele disruptiF-Kinder gibt? Und was fühlst du, wenn du darüber nachdenkst?
Johanna: Hallo meine liebe Helen, danke für deine ehrliche Nachricht und dafür, dass du mir so ausführlich deinen Alltag beschrieben hast! Das klingt für mich so, als wenn du den ganzen Tag wirklich viele Bälle gleichzeitig in der Luft hältst, ziemlich viel Verantwortung trägst und trotz aller Anstrengung manchmal nicht alles schaffst! Die Gefühle, die damit verbunden sind, wenn man Aufgaben verschleppt, kenne ich auch gut und ich wünsche mir, dass wir beide weniger davon geplagt sind. Ich bin gleichzeitig beeindruckt und auch ein wenig verärgert und verängstigt, wenn ich deine Nachricht lese! Verärgert, darüber, dass du gar nicht so viel Zeit zum Chillen hast, wie ich es gerecht und nötig fände, aber auch über unsere Gesellschaft. Es scheint, als ob das Kinder bekommen und versorgen in unserer Gesellschaft etwas ist, was einfach irgendwie zusätzlich funktionieren muss, aber ohne, dass Menschen dafür bezahlt werden oder der Tag deswegen mehr Stunden hätte. Und darüber, dass es offenbar manchmal dazu führt, dass wir vereinzeln und nach der persönlichen Care- und Lohnarbeit keine Energie mehr dafür da ist, Zeit mit Freund*innen zu verbringen oder sich politisch zu organisieren. Verängstigt bin ich, wenn ich daran denke, dass auch ich mich irgendwann bald entscheiden muss, ob ich Kinder bekommen möchte. (Ich bin jetzt 34 Jahre alt und noch nicht sicher). Denn die Vorstellung, was mit mir passieren würde, wenn ich noch mehr Verpflichtungen und noch weniger Zeit zum Chillen hätte, finde ich ziemlich gruselig.
Seit du aus Berlin weggezogen bist, habe ich weniger Einblick in deinen Alltag und ich kann nur über Zoom – wie durch ein Fenster – ab und zu in deine Wohnung schauen. Da seh ich dich meist ohne Kinder, aber merke an unseren Gesprächen, wie knapp deine Zeit ist, und dass alles, was wir machen, sehr effizient sein muss und keine Zeit zum Herumspinnen oder für ruhige Gespräch bleibt, so wie früher. Ich hab auch gemerkt – und das ist mir bei einigen Freund*innen mit Kindern aufgefallen – dass es nicht mehr so leicht ist, Termine zu finden und überhaupt, dass man immer Termine machen muss und sich nicht einfach mal spontan anrufen oder treffen kann. Daran musste ich mich erstmal gewöhnen. Zu erfahren, wie durchgetaktet dein Alltag sein muss, damit alles funktioniert, lässt meinen Frust, den ich manchmal spüre, wenn du nicht so richtig da bist, weniger werden.
Ich muss zugeben, als es losging mit den Kindern bei disruptiF und auch in meinem Freundeskreis, hab ich mich nicht besonders gefreut. Das auszusprechen ist mir ziemlich unangenehm, aber es ist nun mal die Wahrheit. Ich hatte Angst davor, dass sich alles verändern wird, dass ihr und meine anderen Freund*innen weniger Zeit und Aufmerksamkeit für unsere gemeinsamen Projekte, für unsere Beziehungen und für mich haben werdet. Ich glaube, ich war auch in Sorge darum, dass es sein könnte, dass ich mich niemals für diese lebensverändernde Erfahrung entscheiden werde, die ihr macht und uns dadurch etwas so Grundlegendes trennen würde, das nicht richtig überbrückbar sein könnte. Und ja, in einigen Freund*innenschaften und Kolleg*innenschaften haben sich meine Sorgen bestätigt und es hat sich alles verändert. Wir sind uns nicht mehr so nah – mal weil sich der Fokus so sehr auf die Kinder verschoben hat, mal weil ich die Art und Weise, wie manche meiner Freundinnen als Mütter sind, schwer aushalten konnte und mal, weil die straffe Taktung, die sehr strenge Einhaltung von Routinen und die plötzlich verlorengegangene Flexibilität im Alltag mit Kindern dazu geführt hat, dass keine Räume der echten Begegnungen mehr entstanden sind.
Mit anderen Freund*innen und Kolleg*innen ist es ganz anders und sowohl die Beziehungen als auch die Zusammenarbeit haben sich gar nicht verändert oder sind im Laufe der Zeit sogar enger geworden. Ich glaube es hängt auch sehr davon ab, wie der jeweilige Umgang mit den Kindern ist, wie die Carearbeit auf Eltern, Großeltern und Babysitter verteilt ist und welche Rolle man als „kinderlose“ (ich mag dieses Wort irgendwie nicht) Freundin in der neuen Konstellation spielen kann. Zu den Kindern von einer guten Freundin, die anfangs alleinerziehend war, habe ich ein sehr enges Verhältnis. Wir waren von Beginn an mehrmals zusammen im Urlaub, ich hab schon früh alleine auf die Kinder aufgepasst und hatte das Gefühl, einen Platz in dem neu entstandenen Gefüge zu haben. Das hat dazu geführt, dass ich zu den Kindern meiner Freundin nun eine eigene Beziehung habe und sie auch zu einem Teil meines Lebens geworden sind. Das finde ich sehr schön.
In unserer Zusammenarbeit bei disruptiF habe ich auch eine Veränderung hinsichtlich der Themen, die wir besprochen haben, wahrgenommen. Seit wir disruptiF gegründet haben, sind sechs Kinder geboren worden, eines war schon da. Es haben uns auch Kolleg*innen verlassen – vielleicht auch, weil die Stunden pro Tag einfach nicht gereicht haben, um Lohnarbeit, Carearbeit und disruptiF unterzubekommen. Plötzlich waren Kinderwunsch, Schwangerschaft, Erziehungsstile und Fragen von Carearbeit sehr präsent bei disruptiF. Ich finde diese Themen nicht uninteressant, mich haben aber andere feministische Themen einfach mehr bewegt. Es hat mich zum Beispiel eine ganze Zeit lang sehr beschäftigt, welche Rolle Klasse in feministischen Bewegungen spielt und auch welche Rolle die unterschiedlichen Klassenzugehörigkeiten bei uns in der Gruppe spielen. Ich hätte mich gern mit euch über bestimmte Empfindungen und Beobachtungen ausgetauscht, die ich als Klassenübergängerin habe und mache. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es euch alle nicht so sehr beschäftigt – deshalb habe ich den Wunsch nicht weiter thematisiert. Auch das Thema Freund*innenschaft und freund*innenzentrierte Lebensweise hat eine große Rolle für mich gespielt – ich wollte unbedingt, dass meine Lebensform nicht als etwas „Vorübergehendes“ oder „weniger Wertvolles“ angesehen wird. Ich lebe seit mehr als 10 Jahren mit meiner besten Freundin zusammen in einer Art Lebensgemeinschaft. Wir teilen unseren Alltag, Freundeskreise, unsere Familien feiern gemeinsam Weihnachten (oft ohne uns) und wir fahren zusammen in den Urlaub. Wir sind umgeben von einem engen Netz von Freund*innen und Familie und führen beide Partnerschaften. Unsere Lebensform habe ich oft als erklärungsbedürftig erlebt, gleichzeitig gibt es wenig Vorbilder, auf die wir uns beziehen oder verweisen können.
Da mir „meine“ Themen nicht als Themen erschienen, über die wir uns bei disruptIF miteinander verbinden konnten, habe ich mich manchmal dabei erwischt, wie ich euch von den Playdates erzählt habe, die ich mit den Kindern meiner Freundin hatte, obwohl andere Themen eigentlich gerade dringender gewesen wären.
Nun bekommst du wieder Fragen von mir. Ich hoffe du empfindest es nicht als zu intim, wenn ich dich danach frage, wie bei euch die Carearbeit verteilt ist. Denn bei der Beschreibung deines Alltags hatte ich den Eindruck, dass du einen Großteil übernimmst. Aber vielleicht liege ich da auch falsch. Wie nimmst du es wahr? Und außerdem interessiert mich, wie viel du gern arbeiten, dich um deine Kinder kümmern, Freizeit haben oder dich politisch engagieren würdest, wenn du dir die Zeit frei einteilen könntest?
Helen: Hallo liebe Johanna! Danke für deine ehrlichen Worte! Ich habe sie mit viel Interesse gelesen und wurde beim Lesen etwas traurig. DisruptiF und auch unsere Freundschaft sollte immer ein Raum sein, in dem wir uns nicht Arbeitskräfte, sondern als Menschen begegnen, die Gefühle und Geschichten mitbringen und sich dazu austauschen. So bedauere ich, dass wir zu vielen Themen, die dir wichtig sind, nicht genug gesprochen haben. Vielleicht wurden sie in Erzählungen über Neugeborene, Windeln wechseln, durchwachte Nächte und Geburtserfahrungen zu wenig gehört.
Zu deiner ersten Frage: Tatsächlich ist bei uns die Carearbeit ziemlich gleichberechtigt aufgeteilt. Ich sage „ziemlich“ und nicht komplett, weil ich schon gewisse Schieflagen erkenne. Aber sie machen nicht so viel aus. Wir leben als Paar zusammen und arbeiten, wie gesagt, beide jeweils 28 Stunden in unserer Lohnarbeit. Drum herum kümmern wir uns gemeinsam um die Kinder – wir stehen beide morgens mit den Kindern auf, abwechselnd macht jede*r Frühstück, spielt, wickelt, putzt Zähne, tröstet, fängt schlechte Laune bei kleinen Morgenmuffeln und Wutanfälle ab. Dann bringt mein Partner die Kinder zum Kindergarten. Ich beginne früher zu arbeiten, höre dafür auch früher auf und hole die Kinder ab. Wir beide kochen, kaufen ein, putzen und räumen auf. Wir machen vieles gleichberechtigt, so dass es auch mir verwunderlich scheint, dass wir dennoch beide selten eine Pause haben. Equal Care ist wichtig und wir müssen unbedingt darüber sprechen. Zugleich hat es mir oder uns als Eltern nicht das Leben gerettet und kann daher nur ein Baustein sein in einem großen Gefüge, das in unserem Leben Zeit zu einem so knappen Gut macht.
Ich denke, dass es einen Denkfehler gibt, wenn nicht mehr ein Elternteil – meist waren und sind es Frauen – zuhause bleibt und den Haushalt organisiert. Die Frage ist ja, wenn alle Erwerbsarbeit machen, wer dann die ganze Arbeit macht, die zuhause liegen bleibt. Zusammen arbeiten wir als Paar etwa 150 Prozent, wir haben jeweils eine 70- und eine 80-Prozent-Stelle. Die Zeit, die bleibt, reicht nicht wirklich für die vielen Aufgaben, die im Haushalt und mit den Kindern zu erledigen sind, ohne dabei häufig im Stress, müde und ausgelaugt zu sein.
Du hast Recht: Mein Fokus, was feministische Themen angeht, hat sich deshalb auch verschoben. Ich denke viel über Carearbeit nach und darüber, was sich ändern müsste, damit mehr Zeit bleibt für Freundschaften und Engagement, und damit Freund*innen abends beim gemeinsamen Essen nicht mehr in Tränen ausbrechen, wenn sich der Stress des Alltags Bahn bricht. Seit ich Kinder habe, denke ich nach über feministische Jungenerziehung, selbstbestimmte Geburten oder darüber, wie Politik es ermöglichen könnte, dass Menschen, die Kinder, alte oder kranke Menschen pflegen, unabhängig von ihrem Einkommen mehr Hilfe im Haushalt bekommen können. Die veränderten Lebensumstände spiegeln sich in meinen politischen Interessen. Das heißt aber nicht, dass mich deine Themen nicht auch betreffen und interessieren. Im Gegenteil, ich bin sehr froh, dass wir unterschiedliche Erfahrungen und Interessen einbringen. Nur so können wir ja wirklich etwas dazulernen.
Zu deiner zweiten Frage: Wie würde ich mir die Zeit einteilen, wenn ich frei entscheiden könnte? Ich habe ja schon beschrieben, dass ich Teilzeit arbeite und darüber schon selbstbestimmter leben kann als Menschen, die diese Möglichkeit nicht haben. Ich denke an die feministische Denkerin Frigga Haug, die schon vor Jahrzehnten das Konzept der sogenannten „4 in einem-Perspektive“ erdacht hat. Frigga Haug macht einen Gegenvorschlag zu dem Zeitmodell, mit dem wir leben. Frigga Haug schlägt vor, den Tag in vier-Stunden-Etappen zu denken: Vier Stunden Lohnarbeit, vier Stunden Sorgearbeit, vier Stunden Freizeit und Erholung und vier Stunden gesellschaftliche und politische Beteiligung, wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch etwa acht Stunden schläft. Damit kann ich auf jeden Fall mehr anfangen als mit dem klassischen Vollzeit-Erwerbsmodell. Vier Stunden am Tag mit meinen Kindern zu verbringen, wäre mir auf Dauer wohl etwas wenig. Aber der Gedanke, dass Erholung, Freundschaften, politische und gesellschaftliche Beteiligung, Sorge- und Erwerbsarbeit gleichberechtigt nebeneinander stehen und auch dieselbe Wertschätzung erfahren, klingt für mich nach einer großen Erleichterung.
Ich danke dir an dieser Stelle nochmal für deine Ehrlichkeit. Selten sprechen wir ehrlich darüber, was es in uns auslöst, dass wir im Leben unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben, die zu ganz unterschiedlichen Leben geführt haben. Leben, die unterschiedlich getaktet und deshalb teilweise schwer zusammenzubringen sind.
Mein Tagesablauf richtet sich weitestgehend nach den Kindern – die Essenszeiten, Schlafenszeiten und Ruhezeiten. Auch die Arbeitszeiten richten sich viel danach, wann die Kinder betreut sind. Mir kommt das entgegen. Ich bin ein Fan von Routinen, frühen und regelmäßigen Essenszeiten und frühem Aufstehen. Dennoch ist natürlich vieles davon nicht selbstbestimmt. Deinen Tag kannst du in mancherlei Hinsicht freier gestalten. Und zugleich kommt es mir auch oft so vor, dass auch deine Tage sehr durchgetaktet und die Zeit insgesamt sehr voll ist. Und dass dabei auch mal etwas zu viel ist und du etwas absagst. Deshalb wollte ich einmal fragen, wie du selbst deine Zeit wahrnimmst, ob du zufrieden bist damit, wie sie eingeteilt ist?
Beim Lesen deiner Nachricht fiel mir noch ein, dass ich vor kurzem eine Freundin gefragt habe, die keine Kinder bekommen möchte, wie sie darüber sprechen will, weil auch mir das Wort „kinderlos“ unpassend erscheint. Es wirkt, als wäre „mit Kindern“ die Norm, und wer davon abweicht, dem*der fehlt etwas. Sie meinte, sie nennt es am liebsten „kinderfrei“. Ich nutze dieses Wort jetzt mal, bis ich vielleicht noch etwas Passenderes finde.
Ich hatte eine Zeit lang den Eindruck, dass du deinen Lebensentwurf gegenüber uns Kolleg*innen, die Kinder bekommen haben, nahezu verteidigst, dass du sehr um Anerkennung gekämpft hast. Das hat mich damals sehr beschäftigt. Am meisten in Erinnerung ist mir eine Situation, in der mir klar wurde, dass wir uns momentan mit sehr unterschiedlichen Gefühlen und Bedürfnissen begegnen. Ich habe damals zu einem Arbeitswochenende nicht nur mein Baby mitgebracht, das ich gestillt habe, sondern auch noch das größere Kind und meinen Partner, der auf die Kinder aufpassen sollte, damit ich in Ruhe mit euch arbeiten kann. Im Nachgang habe ich bemerkt, dass wir alle uns mit der Situation sehr unwohl gefühlt haben: Mein Partner, weil er sich wie ein fünftes Rad am Wagen vorkam. Ich, weil ich das Gefühl hatte, es stört den Arbeitsfluss, dass meine Kinder in der Nähe sind. Und du, wie ich dann bemerkt habe – weil du dich, wie du mir erzählt hast, neben den Kleinfamilien ausgeschlossen fühltest. Deine Unzufriedenheit hast du mich spüren lassen, und zuerst war ich deshalb sauer. Heute verstehe ich, dass es nicht einfach ist, ein gutes Gleichgewicht zwischen Familie, Freund*innen und Arbeit herzustellen, und dass wir alle das damals auf unsere eigene Weise gespürt haben.
Ich bin dir dankbar, dass wir heute darüber sprechen können. Auch darüber, dass ich, seit ich Kinder habe, auch von Schuldgefühlen begleitet werde. Darüber, manchmal weniger Zeit zu haben, gerade für Freundschaften. Ich frage mich manchmal, ob es für meine kinderfreien Freund*innen eine Zumutung ist, Zeit mit uns zu verbringen. Denn die Kinder wollen spielen, bekommen Wutanfälle und oft ist eine Unterhaltung nur nebenbei möglich. Ich habe mich für die Kinder entschieden und bin mit dem Leben mit ihnen sehr glücklich. Aber was ist mit denen, die keine Kinder bekommen wollen oder können? Ich bin froh über jede Freundschaft, in der wir diese Themen ansprechen. Denn teilweise nehme ich Elternsein auch als isolierend wahr. Ich habe großes Glück und zugleich eine spezifische Einsamkeit während der Elternzeit empfunden, so ganz aus dem Takt mit allen Menschen, deren Tag durch Erwerbsarbeit, Schule oder Kita strukturiert ist. Und es ist eben bis heute manchmal schwer einzuschätzen, wenn ein*e kinderfreie Freund*in zu Besuch ist und sich zurückzieht, um zu joggen oder alleine eine Kaffee trinken zu gehen – liegt es daran, dass die Person ihre Bedürfnisse gut kennt und wahrnimmt? Oder sich langweilt und überflüssig fühlt, weil die Kinder Fangen spielen wollen und kein wirkliches Gespräch entsteht?
Johanna: Liebe Helenski, danke für deine spannende Nachricht! Es hat mich sehr gefreut zu hören, dass ihr euch die Carearbeit gleichberechtigt aufteilt und dass du die Zeit mit deinen Kindern so genießt! Ich finde auch deine Beobachtung sehr treffend, dass es einen Denkfehler gibt, wenn alle erwerbstätig sind und eigentlich keine Zeit dafür vorgesehen ist, den Haushalt zu organisieren. Bei uns ist es ganz ähnlich – auch ohne Kinder. Wir arbeiten auch beide zwischen 30 und 40 Stunden und bei uns zu Hause ist es oft sehr chaotisch. Manchmal gibt es auch Streit darüber, wer wie viel Verantwortung für den Haushalt übernimmt, welche Arbeit für die jeweils andere unsichtbar bleibt und wer welchen Mental Load hat. Insgesamt denke ich aber, dass es auch bei uns sehr gleichberechtigt zugeht und ich finde es eigentlich auch schön, dass im Haushalt oft einiges liegen bleiben darf und wir uns eher dafür entscheiden, Zeit mit Freund*innen zu verbringen, Sport zu machen, uns politisch zu engagieren oder einfach zu chillen.
Und ja, du hast total recht damit, dass auch meine Tage sehr voll und durchgetaktet sind, dass auch ich mal was absage, weil ich mir zu viel vorgenommen habe und einige To-Dos auf der Liste immer weiter nach unten rutschen. Schuld- und Schamgefühle, aber auch die Frage, ob wir das Richtige und genug tun, treiben mich deshalb oft um.
Ich habe mich gefragt, wann diese viele Arbeit eigentlich angefangen hat, denn ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich nicht diese Gefühle hatte. Ich denke, dass diese Entwicklung vor allem mit meiner Selbstständigkeit zu tun hat, aber auch mit der politischen Lage. Nicht nur von mir selbst, sondern auch aus Gesprächen mit Kolleg*innen, habe ich den Eindruck, dass sich diejenigen, die zu Palästina und Israel arbeiten, sich engagieren oder persönlich involviert sind, seit dem 7. Oktober 2023 in einem Ausnahmezustand befinden. Die bis dato unvorstellbare Gewalt und Zerstörung, die wir aktuell im Gazastreifen und dem Westjordanland in Echtzeit auf unseren Bildschirmen mitverfolgen, die Ereignisse des 7. Oktobers in Israel und die Reaktionen darauf hier bei uns haben meinen Alltag verändert und dazu geführt, dass die Trennung zwischen „Arbeitszeit“ und „Freizeit“ immer weiter verschwommen ist. Oft checke ich direkt nach dem Aufstehen die Nachrichten und die einschlägigen Accounts, gebe dann – auch mit dir – Workshops und Fortbildungen, in denen es um die dramatische Situation vor Ort, aber auch um die Situation hier in Deutschland geht und nach der Arbeit gehe ich dann häufig noch zu irgendwelchen Veranstaltungen oder spreche mit Menschen, die auch verzweifelt über die Situation sind.
Abgesehen von diesen letzten 19 Monaten, die sich anfühlen wie ein Dauerlauf, habe ich natürlich viel Flexibilität im Alltag und auch insgesamt. Ich konnte beispielsweise in den letzten Jahren die Wintermonate gemeinsam mit Freund*innen in Griechenland verbringen und von dort aus arbeiten oder im Sommer mal eine längere Zeit keine Aufträge annehmen. Ich habe auch keine festen Arbeitszeiten und kann deshalb mitten am Tag zum Sport gehen, Freund*innen zum Mittag treffen, meinen Partner treffen oder mal die Kinder meiner Freundin von der Kita abholen. Das erlebe ich als großes Privileg und schätze diese Freiheit sehr! Andererseits führt dieses Arbeitsmodell auch dazu, dass Arbeits- und Freizeit nicht klar voneinander getrennt sind – auch weil ich von zu Hause arbeite. Ich denke manchmal, dass die Freund*innen mit Kindern irgendwie eine „natürliche“ Arbeitszeitbegrenzung haben, die ich eigentlich ganz gut finde. Es scheint mir, als zwingen die Care-Verpflichtungen dann dazu, in der sehr begrenzten und zeitlich fixierten Arbeitszeit pragmatisch zu sein. Das fehlt mir manchmal etwas.
Liebe Helen, ich bin sehr dankbar dafür, dass wir uns die Zeit für diesen Austausch nehmen und so die Lebenslagen, Themen und Sorgen der jeweils anderen besser verstehen können und auch die politische Dimension daran! Ich glaube sogar, dass diese Art des Austausches eine Voraussetzung dafür ist, sich gemeinsam feministisch organisieren zu können, wenn man in so unterschiedlichen Lebensphasen ist, wie wir es sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Erfahrungen nicht so individuell sind, wie wir manchmal denken, und dass der Austausch über Zeitnot notwendig ist, um die strukturellen Aspekte daran zu verstehen. Daher möchte ich dich jetzt nach deinen Gedanken dazu fragen: Wofür sollten wir kämpfen und uns einsetzen? Wie können wir es schaffen, als feministisches Kollektiv trotz aller Verpflichtungen und der knappen Zeit, eine Base füreinander zu sein, die uns Kraft gibt, gemeinsam etwas zu bewegen?
Helen: Hallo Johanna, danke, dass du nochmal aus deinem Alltag erzählt hast. Ich merke auch, dass die Tage meiner Freund*innen, die nicht mit Kindern leben, meist genauso voll sind wie meine. Deshalb brauchen wir eine Debatte über Zeit insgesamt. Denn Zeit ist politisch, sie strukturiert unsere Tage, ist begrenzt und es sollte nicht von den finanziellen Bedingungen bestimmt sein, ob Menschen frei darüber entscheiden können. Zugleich brauchen wir Lösungen dafür, wie Menschen mit Kindern oder in Pflegeverantwortung entlastet werden können. Unsere Kinder sind in einer guten und sehr zuverlässigen Kita. Und wie gesagt, klappt es bei uns auch ganz gut mit Equal Care. Beides ist enorm wichtig und schafft doch keine ausreichende Entlastung, um mich ausreichend um Freundschaften zu kümmern oder politisch aktiv zu sein. Das kann ich aus meiner Perspektive beitragen. Und unsere thematischen Interessen lassen sich hier vielleicht sogar zusammenführen: Denn wer über wie viel Zeit frei verfügen kann, ist auch eine Klassenfrage. Das Thema Klasse hängt auch stark mit Fragen nach Zeit, Erwerbsarbeit und Sorgearbeit zusammen. So können wir vielleicht auch mehr den Blick für unsere jeweiligen Lebensrealitäten öffnen.
Mit euch im Kollektiv wünsche ich mir, dass wir unser Teilzeitcommitment wertschätzen – dass jede Person sich in ihrem Rahmen einbringt und dass wir, wenn es eben nur in Teilzeit ist, wirklich miteinander verbunden sind und uns gegenseitig tragen können. Und uns gegenseitig für unsere anderweitigen Teilzeitcommitments interessieren, so unterschiedlich sie sein mögen. Abschließend will ich dir nochmal Danke sagen, für dein Vertrauen und deine Zeit. Und dich fragen, was du für feministische Ziele siehst, für die wir uns gemeinsam einsetzen sollten.
Johanna: Aus unserem Gespräch und dem gemeinsamen Nachdenken habe ich vor allem eines mitgenommen. Unsere Zeitnot ist nicht individuell, sondern betrifft uns alle, weswegen wir auch kollektive Lösungen dafür finden müssen. Wir sollten uns aus meiner Sicht in erster Linie dafür einsetzen, dass alle Menschen weniger Zeit mit Lohnarbeit verbringen müssen und wir kollektiv wieder mehr Raum dafür haben, uns umeinander, um Kinder, um pflegebedürftige Menschen zu kümmern und uns zu fragen, wie wir eigentlich zusammen leben wollen. Als feministische Bildungsinitiative können wir dazu beitragen, indem wir in Bildungsprozessen reflektieren, wieso so viele Menschen unter Zeitnot leiden, wie wir unsere Zeit eigentlich lieber einteilen würden und welche tollen Lebensformen es gibt, in denen man auf unterschiedliche Weise Care-Verantwortung übernehmen kann. Ich finde, wir sollten wieder viel mehr Utopien des Zusammenlebens und des sich Umeinander-Sorgens entwickeln, um zu wissen, wofür wir eigentlich kämpfen!
Danke Helen, für den schönen Austausch! Lass uns das wieder öfter machen!
disruptiF – feministisch bilden und beraten ist ein Zusammenschluss feministischer politischer Bildner*innen und Berater*innen.
disruptiF steht für Brüche und Irritationen sowie das Dekonstruieren und Stören von unterdrückenden Strukturen. Als Disruption oder Betriebsstörung hinterfragen wir patriarchale und diskriminierende Bildungs- und Arbeitspraktiken und entwickeln emanzipatorisch-feministische, herrschaftskritische Ideen für gute Bildung und gute Arbeit.
Helen Sophia Müller ist politische Bildnerin und hat mit Johanna und weiteren Kolleg*innen den Verein disruptiF – feministisch bilden und beraten gegründet. Sie lebt in München und arbeitet dort am NS Dokumentationszentrum. Sie hat zwei kleine Kinder und sucht mit ihrem Partner nach Ausflüchten aus der Kleinfamilie in einer Stadt mit schier unbezahlbaren Mieten. Kinder zu haben hat in ihr gespaltene Gefühle erzeugt – einerseits die Freude über die Kinder und das Zusammenleben mit ihnen, andererseits ein häufiges schlechtes Gewissen und Schuldgefühle, weil für feministisches Engagement und enge Freundschaften nie genug Zeit bleibt.
Johanna Voß ist politische Bildnerin und hat mit Helen und weiteren Kolleg*innen den Verein disruptiF – feministisch bilden und beraten gegründet. Neben ihrer Arbeit bei disruptiF verbindet sie bei der Gesellschaft im Wandel rassismus- und antisemitismuskritische Ansätze. Sie lebt seit 10 Jahren mit ihrer besten Freundin zusammen in Berlin-Kreuzberg und ist umgeben von einem engen Netz aus Freund*innen, deren Kindern und ihrem Bruder, die nicht nur den Alltag miteinander teilen, sondern auch füreinander sorgen.