Liebe Alisa,
als Du mich damals (und es fühlt sich wirklich nach damals an – es ist so viel Leben passiert seitdem) gefragt hast, ein Teil von Nicht nur Mütter waren schwanger zu sein, habe ich mich gefreut, aus mindestens zwei Gründen. Der eine war, dass ich wusste, es gibt noch so viel über Mutterschaft und Familie zu sagen. Der andere war, dass ich es schon ein bisschen leid war, über Mutterschaft zu sprechen und zu schreiben. Einige Jahre meines Lebens hatte ich das schon gemacht und hatte das Gefühl, ich hätte mich genug an diesem Thema abgearbeitet. Ich wollte nicht mehr darüber sprechen und schreiben. Nicht, weil es nicht wichtig gewesen wäre. Sondern weil sich in der Zeit nur so wenig verändert hat. Vielleicht sogar nichts.
Immer wieder traf ich ältere Mütter von behinderten und nicht behinderten Kindern, die mir sagten: “Das war schon bei uns so und Ihr müsst noch immer dafür kämpfen?” Wie depriminierend. Und gleichzeitig nur ein Teil der Wahrheit, denn – und dazu leistet auch Deine Arbeit einen wichtigen Beitrag – gibt es heute mehr unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt (deinen Untertitel habe ich von Anfang an geliebt). Immerhin das.
Teil einer Mutterschaftsgeschichte, das wollte ich gern sein. Aber eine Stimme von vielen. Eine, die den Raum teilt mit vielen anderen unerhört(er)en Stimmen. Dein Buch war so ein Raum. Ein Raum, in dem ich über mein verstorbenes Kind schreiben kann und mich dabei gut aufgehoben fühle. Ein Raum mit vielen unerhörten Geschichten. Geschichten, die da sind, aber denen viel zu oft nicht zugehört wird. Geschichten, die einige Menschen nicht hören wollen, weil sie ihnen unangenehm werden könnten. So wie Svetlana und Constanze in ihrem Beitrag schreiben: “Die Leute ziehen sich von einem zurück, wenn man selbst behindert wird, oder wenn man ein Kind hat, das Behinderungs- oder andere Diskriminierungserfahrungen macht. Du bist anstrengend.”
Nicht nur Mütter waren schwanger ist ein Raum für anstrengende Menschen und ihre anstrengenden Geschichten, die für sie selbst meist anstrengender sind als für die, die sie lesen oder hören dürfen. Ich fühle mich am wohlsten in Räumen mit diesen anstrengenden Menschen. Denn hat man anstrengende Menschen versammelt in einem Raum, wird schnell klar: Es sind die unanstrengendsten Räume. Es sind Räume, in denen zusammen alles leicht(er) wird. Durch diese Räume verändert sich etwas, allein dadurch, dass es diese Räume gibt.
Danke für die leichten Räume, die dadurch leicht werden, dass es in ihnen auch mal schwer sein darf.
Mareice
Mareice Kaiser, Jahrgang 1981, arbeitet als Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin und im Internet. Sie scrollt, schreibt und spricht zu Gerechtigkeitsthemen. Vom medium magazin wurde sie 2022 in die TOP 10 der deutschen Wirtschaftsjournalist*innen gewählt.
Von Anfang 2018 bis Ende 2019 arbeitete sie als Redakteurin, Kolumnistin und Podcasterin bei ze.tt. Von Anfang 2020 bis Anfang 2022 leitete sie als Chefredakteurin das Online-Magazin EDITION F. Mittlerweile arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin für verschiedene Medien zu den Themen Inklusion, Arbeit und Gerechtigkeit.
In der freitag-Serie Neue Maloche spricht sie mit Menschen, die malochen, über ihre Arbeit. Im Herbst 2023 startete sie die Video-Kolumne Mareice Kaiser geht ins Theater für die Schaubühne Berlin, in der sie (fehlende) Teilhabe am Kulturbetrieb thematisiert.
Mit ihrem Essay Das Unwohlsein der modernen Mutter war Mareice Kaiser 2018 nominiert für den Deutschen Reporter:innenpreis. 2019 verlieh ihr die Stiftung für das behinderte Kind den Medienpreis für das in chrismon erschienene Essay Nehmen wir dieses Kind?.
Ihr erstes Sachbuch Alles inklusive erschien 2016 im S. Fischer Verlag. Sie ist Co-Autorin von Nicht nur Mütter waren schwanger, 2018 Edition Assemblage, von Kinderkriegen. Reproduktion reloaded, 2021 Edition Nautilus, von Soll & Habitus, 2021 Sukultur, von Klassenfahrt – 63 persönliche Geschichten zu Klassismus und feinen Unterschieden, 2022 Edition Assemblage.
Im April 2021 erschien ihr zweites Sachbuch Das Unwohlsein der modernen Mutter im Rowohlt Verlag, das direkt in die SPIEGEL-Bestsellerliste einstieg. Im Oktober 2022 erschien ihr drittes Sachbuch WIE VIEL – Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht, ebenfalls im Rowohlt Verlag. Zusammen mit Rebecca Maskos schrieb sie das Sachbuch Bist du behindert oder was?, das im November 2023 im familiar faces Verlag veröffentlicht wurde. Im März 2025 erschien Ich weiß es doch auch nicht – 101 entlastende Antworten auf existenzielle Fragen.
Mareice Kaiser lebt und arbeitet im Internet als @mareicares.