Eine ganz normale Familie
C: wheelymum, wir haben uns kennengelernt bei einem Online-Seminar zum Thema selbstbestimmte Familienplanung für inter, trans und behinderte Menschen beim Familia*Futura Festival. Ohne dich wäre ich mir ziemlich verloren vorgekommen, allein als behindertes Elter[1] unter wohlmeinenden Eltern behinderter Kinder und Sozialarbeitenden. Wieviel Mut braucht es heutzutage noch, um sich als Eltern mit Behinderung zu positionieren?
W: Genau aus diesem Grund habe ich den Blog wheelymum gestartet. Ich dachte: Ich kann doch nicht die einzige Mama im Rollstuhl sein. Ich suche nach Austausch mit Gleichgesinnten und dem Mut, sich zu zeigen.
Es gibt immer noch eine Hemmschwelle, die viele daran hindert, zu sagen: „Ich bin Elter, ich habe eine Behinderung und wir stemmen das trotzdem.“ oder: „Wir brauchen in einigen Bereichen Hilfe und Unterstützung, das hat aber nichts mit meiner Fähigkeit zu lieben und Elter zu sein zu tun.“
Du bezeichnest deinen Blog als Mischung aus Familien- und Inklusionsblog. Was bedeutet für Dich „Familie“, was bedeutet für Dich „Inklusion“?
Familie kann so vielfältig sein. Wir müssen endlich raus aus diesen Rastern und Schubladen. Familie ist da, wo man sich gegenseitig liebt und unterstützt.
Inklusion ist alles, was dazu befähigt, dass alle Menschen teilhaben können. Das ist vielfältig, auch ich lerne hier noch dazu. Oft habe ich keine Vorstellung davon, wie es für jemanden mit einer anderen Behinderung als meiner ist. Ich weiß, dass mich die Bordsteinkanten stören, weil ich da mit dem Rollstuhl nicht hochkomme. Ich weiß aber mittlerweile auch, dass irgendeine Markierung für blinde Menschen wichtig ist.
Diese Vielfalt zeigt sich auch auf dem Blog. In vielen Dingen sind wir eine ganz „normale“ Familie. Hier wird gestritten, gelacht, hier gibt es Probleme mit der Schule, Wutanfälle und die probiere ich genauso zu begleiten wie jede andere Mama oder jeder andere Papa auch. Das ist ein ganz normales Leben mit der einen oder anderen Besonderheit und mit einigen Steinen, die man uns in den Weg legt. Darauf mache ich aufmerksam und möchte anderen Mut machen: Ihr seid damit nicht allein, lasst euch davon nicht abschrecken! Es gibt immer eine Lösung. Ich finde es nicht richtig, dass man auch mit einer Behinderung um fast alles kämpfen muss. Aber es geht und es sollte kein Grund sein zu denken: Deswegen kann ich keine Familie oder keine Kinder haben.
Ich bin kein Aktivist wie Raul Krauthausen. Mir geht es um die Mischung und darum zu zeigen, wie ein Familienleben mit einer Mama mit Behinderung aussehen kann. Es ist unser Leben und es sind unsere Themen, es ist nicht auf andere übertragbar.
Steine, die einem in den Weg gelegt werden: Barrieren und Vorurteile
Die Steine im Weg sind der Grund, warum es Mut erfordert über ein „normales“ Familienleben zu sprechen, das von vielen nicht so empfunden wird. Wer legt dir Steine in den Weg, sind es medizinische Institutionen, sind es Behörden, sind es Menschen, denen du im Alltag begegnest?
Alles davon. Bei meinem ersten Kind hat es mit einem Arzt angefangen. Meine Gynäkologin wollte, dass ich in der Schwangerschaft von einer Uniklinik mitbetreut werde. Das hat sich als sehr sinnvoll erwiesen. Wichtig war ihre Offenheit und dass sie mich nicht nur weiterverwiesen, sondern durchgehend begleitet hat.
Der Neurologe allerdings, der mich wegen meiner Krankheit bereits davor betreut hat, war schockiert und hat mir sofort einen Abbruch nahegelegt. Seiner Auffassung nach gibt es wohl solche Eltern wie mich nicht oder sollte es vielleicht nicht geben. Vermutlich dachte er, ich könnte mich nicht richtig um die Kinder kümmern. Ich habe in dem Moment kaum etwas erwidert, weil ich völlig vor den Kopf gestoßen war. Danach habe ihm einen Brief geschrieben mit dem Inhalt, dass ich das Arzt-Patientin-Verhältnis beende, weil keine Vertrauensbasis mehr da ist.
Ich selbst habe mir auch Gedanken und Sorgen gemacht, wie viele werdende Eltern. Wie kann ich mein Kind versorgen? Was für Hilfsmittel brauche ich dafür? Damals hatte ich einen Aktiv-Rollstuhl, den man selbst schieben muss. Aus meinen Recherchen wusste ich, dass als Mutter ein Rollstuhl mit elektrischem Antrieb wichtig wäre. Aber niemand fühlte sich zuständig. Eine Mitarbeiterin der Krankenkasse sagte: „Nein, wir sind nicht für die Versorgung des Kindes zuständig. Kinder sind Ihr Privatvergnügen.“ Das Jugendamt sagte: „Wenn Sie einen Rollstuhl brauchen, dann brauchen Sie den Rollstuhl und nicht das Kind.“ Erst als es mir in der Schwangerschaft unmöglich wurde, mich selbst mit dem Aktiv-Rollstuhl fortzubewegen, bekam ich auf Antrag einen Elektro-Rollstuhl. In solche Zwickmühlen kam ich immer wieder und habe dabei viel Ableismus erfahren.
Wie hast du die Geburt und die Zeit mit den Babys im Krankenhaus erlebt?
Meine Kinder wurden beide aus unterschiedlichen Gründen zu früh geboren. Auf der Säuglings-Überwachungsstation durfte ich als Elternteil anders als üblich nicht dabei sein, mit der Begründung, dass ich mich nicht selbst vom Bett in den Rollstuhl mobilisieren kann. Um das Kind aus dem Brutkasten zu holen, hätte ich Hilfe gebraucht und bekam zu hören: „Das geht nicht. Für Eltern wie Sie sind wir nicht ausgestattet.“ Da wurde nicht für Eltern mit Behinderung geplant. Bei meinem ersten Kind waren die Türen zu den Bädern des Krankenhauses zu schmal für den Elektro-Rollstuhl. Die war nur für Krankenhausrollstühle ausgelegt. In einem Neubau des Jahres 2013.
Bauliche Barrieren sind also auch im Gesundheitssystem immer noch vorhanden. Wie erlebst du das im Alltag?
Natürlich gibt es dieses behindert werden auch im Alltag. Ich konnte an keiner Mutter-Kind-Gruppe teilnehmen, weil ich in die Räume nicht reinkam.
Die Wahl eines Spielplatzes ist schwierig. Ich muss vorher herausfinden: Komme ich da mit dem Rollstuhl zurecht? Auf einen Spielplatz voller Sand kann ich nicht, da bleibe ich stecken. Bei uns im Dorf gibt es Spielplätze auf einer Wiese, ohne Abgrenzung. Da kann ich auch nicht problemlos hin, denn dort könnte ein Kind wegrennen.
Überhaupt ist das ein Großteil meiner Elternschaft: Dinge vorher probieren, abklären, regeln oder nachfragen, damit ich die Situation einschätzen kann und mich nicht ängstlich frage, ob ich das schaffe. Wenn ich diese Ruhe habe, geht vieles leichter.
Einmal war ich mit meinem dreijährigen Sohn auf einem Spielplatz, hinter dem ein kleines Wäldchen ist. Wir hatten miteinander abgesprochen, dass er in das Wäldchen darf. Wenn er Hilfe braucht, ruft er mich. Ich kann da zwar nicht reinfahren, aber ich kann ihn mit Worten beruhigen und rauslotsen, oder jemanden bitten, zu ihm zu gehen. Dieses Mal kam eine Mutter an, trug mein schreiendes Kind zu mir und sagte schroff: „Hier ist Deine Mama!“ Ich fragte: „Was ist denn passiert?“ – denn ich hatte ihn nicht rufen gehört – und er sagte: „Die Frau sagt, ich darf da nicht hin!“ Ich sagte zu ihr: „Das war abgesprochen, ich habe es ihm erlaubt.“ Sie sagte: „Ja, aber der muss in Ihrer Nähe bleiben.“ Das war gut gemeint, aber völlig übergriffig. Ich bin die Mutter, ich entscheide das und wenn mein Kind und ich uns einig sind, dann geht das.
Von Kindern lernen: immer offenbleiben!
Ein anderes Thema, um das sich viele Ängste behinderter Eltern drehen, ist der Kontakt mit Behörden. Man liest auch heute noch ab und zu, dass Leute eine Elternassistenz beantragen und ihnen plötzlich die Kinder weggenommen werden sollen. Oft kommt es nicht so weit, aber die Angst davor ist verbreitet. Was habt Ihr damit für Erfahrungen?
Wir hatten keine Elternassistenz. Wir haben versucht, eine zu beantragen, bekamen es dann aber mit einer Person vom Integrations-Amt oder Amt für Teilhabe zu tun, die gesagt hat: „Dann können Sie ja Ihr Kind nicht richtig versorgen. Dann müssen wir das Jugendamt dazu holen.“ Die Zahlung der Elternassistenz ist nicht einer einzigen Stelle zugeordnet, da ist man schnell in diesem Behörden-Pingpong. Schade finde ich, dass sie das Jugendamt, das ja auch sinnvolle Unterstützung bieten kann, gleich als Drohgebärde erwähnt hat.
Vieles hängt stark von einzelnen Sachbearbeitenden ab, weil es Ermessensspielraum gibt. Legt man Widerspruch ein, wird der von einer anderen Person bearbeitet, da hat man gute Chancen. Ich bin es gewohnt zu kämpfen und für mein Recht einzustehen. Aber es kostet viel Zeit und Kraft und die hatte ich mit einem Neugeborenen nicht.
Seit 2018 wurde durch das Bundesteilhabegesetz BTHG vieles vereinfacht. Aber die Verbesserungen sind noch nicht überall angekommen. Hier braucht es bessere Beispiele, Vorbilder, Menschen, die zeigen: So kann’s gehen.
Aktivismus mit abgezählten Löffeln
Das bringt mich zurück zu einem deiner Eingangs-Statements. Du hast gesagt, du bist keine Aktivistin wie Raul Krauthausen. Ich nehme dich aber doch als Aktivistin wahr: mit deinem Blog, wie du für deine Rechte einstehst, andere dazu ermutigst und auch über den Blog hinaus politisch aktiv bist. Wie würdest du deinen Aktivismus beschreiben?
Alles, was ich tue, tue ich mit meiner Behinderung. Ja, ich werde auch behindert von außen. Dennoch habe ich einfach nicht genug Löffel.[2] Ich bin nicht schon immer behindert gewesen, ich habe den Vergleich. Ich muss meine Zeit und Kraft einteilen und im Moment sind meine Kinder noch so jung, dass die mich stark brauchen.
Ganz aktivistisch bin ich dann eben nicht unterwegs, aber das ist auch nicht mein einziges Ziel. Ich will nicht nur sagen: Das läuft in der Behindertenpolitik oder in der Familienpolitik für Menschen mit Behinderungen falsch. Ich will auch zeigen, was gut läuft und dieses Bild von einer normalen – was auch immer das ist – Familie im Alltag.
Wenn ich schlechte Erfahrungen mache, behindert werde, oder wenn andere mir Ähnliches berichten, dann möchte ich helfen, Öffentlichkeit zu schaffen. Ich kenne andere Aktivisten mit Behinderung, aber bin auch mit vielen Menschen, die Elternblogs betreiben, vernetzt. Auch darunter gibt es einige, die Kinder mit Behinderung haben. Und es gibt viele, die andere Päckchen zu tragen haben. Mit denen tausche ich mich aus, um ein Gespür für unsere unterschiedlichen Sichtweisen zu bekommen und gemeinsame Anknüpfungspunkte zu finden. Denn wir Menschen mit Behinderung sind insgesamt zu wenige. Damit wir nicht als kleine Randgruppe wahrgenommen werden, können wir uns in Solidarität mit anderen verbinden. Ich werde in den nächsten Wochen als Vertreterin des Bundesverbands behinderter und chronisch kranker Eltern e.V. dabei sein, wenn der 9. Familienbericht der Bundesregierung übergeben wird, in dem zum ersten Mal Eltern mit Behinderungen erwähnt werden. Es tut sich was, aber noch zu langsam. Deswegen finde ich es wichtig, soweit die Kraft reicht mit dabei zu sein, statt nur zu meckern.
Eltern mit Behinderung und Eltern von Menschen mit Behinderung
Du hast erwähnt, dass du sowohl mit Menschen mit Behinderung als auch mit Eltern von Kindern mit Behinderung vernetzt bist. Wie empfindest Du das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen?
Ein kleines Beispiel: Ich suchte für meinen Blog nach Gastbeiträgen zum Welt-Down-Syndrom-Tag von betroffenen Menschen. Eine Mama wollte gerne was schreiben, aber mich würde viel mehr interessieren: Was sagt das mittlerweile erwachsene Kind? Ich weiß, dass man als Eltern seinem Kind nahe ist, dennoch ist man nicht immer die kompetenteste Ansprechperson. Man ist eher in der Vermittlungsrolle.
Beim Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern e.V. gibt es den Begriff des „Co-Handicaps“ für die Situation der Partnerpersonen behinderter Eltern. Mein Partner kann aber nur sagen, wie es ihm mit mir als Frau und Mutter geht. Er kann nicht für mich sprechen. Manche Sachen sind für ihn super anstrengend und ich sage: „Das ist doch kein Problem!“ oder andersrum. Egal wie viel wir uns austauschen: Er ist nicht ich und sitzt nicht im Rollstuhl.
Für den Blog und als Mama suche ich auch den Erfahrungsaustausch mit Menschen, die Eltern mit Behinderung haben. Gerade bei meinem ersten Kind habe ich mich gefragt: wie erlebt er mich? Deshalb habe ich jemanden gesucht, den ich fragen konnte: Wie war das für dich als Kind, als dein Papa im Rollstuhl saß? Und nicht mit dem Papa über die Kinder zu reden. Ich finde es wichtig, sich nicht stellvertretend für andere zu äußern, sondern sich über die eigene Position bewusst zu sein. Pflegende Angehörige haben es schwer und leisten viel Arbeit. Aber die eigentliche Expertise haben die betroffenen Personen.
…die es ja auch meist noch schwerer hat.
Genau.
Widerstand beginnt damit, sich aus dem Haus zu trauen
Auf meine Frage nach deinem Aktivismus hast du geschildert, wie du deine begrenzten Kräfte strategisch einsetzt. Hast du außer Bloggen noch Tipps für Menschen, die aktiv sein wollen und denen klassische Formen von politischem Aktivismus nicht liegen oder nicht offenstehen?
Verbündete suchen, auch über Social Media. Es gibt so viele Dinge, die man teilen kann, um auf sie aufmerksam zu machen. Hier auf dem Dorf bin ich die einzige Rollstuhlfahrerin, die man sieht. Da ist es schwierig, Gleichgesinnte zu finden. Für mich war es in der Corona-Zeit sehr gut, dass es viele Online-Veranstaltungen gab, die für mich relativ barrierefrei waren, so dass ich neue Leute kennenlernen konnte und neue Verknüpfungen entstanden sind.
Sich trauen. Das kann so vielfältig sein: Dass ich mich traue andere anzusprechen, dass ich mich traue, einen Aufruf über Social Media zu starten, dass ich mich ganz einfach traue, vor die Tür zu gehen.
Bei mir ging das oft erst dann, wenn der Leidensdruck zu hoch war. Meine Erkrankung verläuft schubförmig. Lange habe ich versucht, ohne Rollstuhl auszukommen. Erst als ich kaum mehr die Wohnung verließ, habe ich mir überlegt: Entweder ist das jetzt mein Leben, oder ich lasse mir helfen. Dann kam der Rollstuhl, mein Hilfsmittel, der hat mir geholfen, wieder rauszugehen. Der erste Schritt ist, dass ich diese Hemmschwelle abbaue und mir selbst sage: Es ist okay. Egal, was die anderen sagen: Ich bin da.
[1] Wir benutzen stellenweise den Begriff „Elter“ im Singular statt „Elternteil“, um zu betonen, dass Eltern nicht immer zwei sein müssen. Um Barrieren niedrig zu halten, verzichten wir auf geschlechtsinklusive Formen mit Sonderzeichen und wechseln zwischen geschlechtsneutralen und vergeschlechtlichen Formen, wie es in der mündlichen Sprache üblich ist.
[2] „Löffel“ werden von vielen behinderten und chronisch kranken Personen genutzt, um die begrenzte Energiemenge zu beschreiben, die ihnen täglich zur Verfügung steht. Manche nennen sich auch „Spoonies“. Die Metapher wurde 2003 durch die Bloggerin Christine Miserandino in ihrem Artikel „The Spoon Theory“ geprägt.
Behörden-Ping-Pong und bevormundende Hilfe
Ju, Frau, Mutter von 2 Kindern, Rollstuhlfahrerin. Schreibt im Internet als wheelymum über das Leben und den Alltag als Mama mit Behinderung.