Im Krankenhaus wird alles gemessen. Alles wird messbar. Trotzdem sind die Dinge, die dort geschehen, genauso wenig kontrollierbar wie anderswo. Die überwachten, vermessenen Körper maßen sich an, nach eigenen Regeln zu funktionieren.
Das ist mitunter ein schwer auszuhaltendes Paradoxon, wenn man Patient*in ist. Oder Angehörige, frischgebackene Eltern ohne Erfahrung zum Beispiel, deren Kind auf einmal, auf ungewisse Zeit, mit ungewissem Ausgang, in die Intensivstation hineingeboren wird.
Dann muss man die Kontrolle abgeben an ein System, das überwacht, so gut es geht, aber keine Kontrolle versprechen kann.
Versteht mich nicht falsch: Als ich das erste mal mein erstes Kind auf der Intensiv-Intensivstation besuchte, da war ich vor allem eins: dankbar.
Ich lag zu der Zeit mutterseelenallein im Familienzimmer der Wochenbettstation: Mein Partner R. war zuhause, unseren Alltag retten. Unser Neugeborenes lag auf der geheimen Station im Keller, die nicht ausgeschildert ist, ein Hochsicherheitsbereich für die kleinsten Patient*innen der Welt.
Ich wurde im Krankenbett dorthin gefahren, unendliche Flure entlang, jeder versehentliche Stoß des Gitterrahmens an einer Tür- oder Fahrstuhlkante fuhr als stechender Schmerz durch meine frische Kaiserschnittnarbe. Selbst laufen durfte und konnte ich noch nicht zu diesem Zeitpunkt; das würde erst drei Tage später von mir verlangt werden, als ich das Krankenhaus – und somit auch mein Kind – verlassen musste, um das Bett für die nächste Person freizumachen.
The irony: noch drei Wochen vorher, vor dem Blasensprung, hatte ich förmlich darum gebettelt, trotz verkürztem Muttermund nach Hause zu dürfen. Und jetzt wollte ich im Krankenhaus bei meinem Baby bleiben und durfte nicht .
Aber zurück zu meinem ersten Besuch auf der Intensiv-Intensivstation für zu früh geborene Kinder: Ich wurde in den Keller gebracht und durch die Schleuse mit Kamera geschoben und betrat eine neue Welt aus Angst und dankbarem Kontrollverlust.
Ich war dankbar, dass die Pflegekräfte mit liebevoller Kompetenz alle Entscheidungen trafen. Nichts ging ohne sie. Auf großen Bildschirmen im Krankenzimmer schlängelten sich ohne Unterlass die Vitalkurven der Frühchen, die in ihren Brutkästen schlummerten. Hier gab es kein Kindergeschrei, nur das Piepen und Pumpen der Maschinen.
Sie waren wie Engel für mich, also: die Pflegekräfte, nicht die Babies. Sie wussten stets, was zu tun war. Sie überwachten mich mit ruhiger Hand dabei, wie ich versuchte, eine Mutter zu sein für dieses winzige Wesen, das mein Kind war. Ein Kind, das ohne Schläuche und Kabel nicht lebensfähig war und dessen Zerbrechlichkeit mich zunächst erschreckte, bevor es mich mit Liebe füllte.
Tagaus, tagein, besuchte ich O. nun im Keller der Angst und Dankbarkeit. Dort lag er in einem Zimmer, gemeinsam mit vier anderen winzigen Wesen, jedes Kind in einem warmen Brutkasten, daneben je ein Stuhl. Ich setzte mich neben O.s Kasten und machte mich obenrum frei. Dann legten die Pflegeengel ihn mir auf die Brust, wo er einfach nur schlief und atmete. Es gab kein Handynetz in diesem viel zu warmen Kellerraum, ich schwitzte und machte Fotos von O., auf denen ich versuchte, die Teile seines Körpers einzufangen, die nicht von Kabeln und Schläuchen verdeckt waren.
Nur einmal, während eines Besuchs bei meinem Mini-Baby, erlebte ich einen Notfall: Etwas piepte schneller als sonst am benachbarten Frühchen-Inkubator. Mit ruhiger Dringlichkeit nahm man mir O. von der Brust – er war noch zu zerbrechlich, als dass ich ihn selbst hätte aufnehmen können, ein Arm war so lang und dick wie mein Mittelfinger. Man verwies mich freundlich, aber bestimmt des Zimmers. Was da gerade passierte, wusste ich nicht.
Nachdem vier patente Pflegeengel sich über den Nachbarbrutkasten gebeugt hatten und einen riesigen Schlauch im winzigen Babymund installierten, war niemand gestorben.
Alles wieder unter Kontrolle, soweit es eben geht.
Die Flurwände der Frühchenstation sind bedeckt mit Fotocollagen von winzigen, verkabelten Babies auf Krankenhauslaken, ihre Geburtsdaten stehen dabei und bei manchen, nur Wochen später, ein anderer, endgültiger Tag. Diese Kinder, diese Familienkonstellationen, haben die Intensivstation nie ganz verlassen, ihre ängstliche Dankbarkeit hängt für immer in den Fluren der Station.
Mein Kind durfte nach zehn Tagen schon auf die „normale Intensivstation“.
Er ist ein Champion, ein Kämpfer, sagten uns die pflegenden Engel, die dies verfügten. Das war das erste Mal, dass ich nicht schockiert war von meinem Baby, sondern stolz auf mein Kind.
Nach zehn Tagen hatte er es geschafft, aus dem geheimen Keller auf eine Station zu kommen, die ausgeschildert war und in den oberen Stockwerken des Krankenhauses lag, auch wenn man auch hier nur durch eine Videoschleuse hineingelangt.
Ich war am 2. September ins Krankenhaus gebracht worden, per Krankentransport direkt aus der Feindiagnostikpraxis. Da war ich in der goldenen Mitte der Schwangerschaft gewesen und auf einmal völlig am Ende.
Jetzt war es Mitte Oktober.
Wie lang würde O. nun wohl noch im Krankenhaus bleiben? Bis ins nächste Jahr hinein? Bis Silvester, seinem ursprünglichen Geburtstermin? Oder durften wir ihn vielleicht sogar vor Nikolaus mit nach Hause nehmen? Musste er bleiben, bis er ein bestimtmes Gewicht oder eine gewisse Größe erreicht hatte? Bis er reif genug war? Aber was bedeutete das?
Das alles konnte mir niemand sagen.
Überhaupt, es wurde auf diese Station bedeutend schwerer, ein offenes Ohr zu finden für meine Fragen als frischgebackene Mutter ohne Verantwortung für mein Kind.
Die engelhafte Ruhe, die uns im geheimen Keller entgegen gebracht wurde, wich hier der eiligen Abfertigung, die das Krankenhausleben aufgrund mangelnder Ressourcen meistens bestimmt.
Jetzt ging die Zeit des Wartens los.
Ich würde in den folgenden 10 Wochen jeden Tag ins Krankenhaus fahren und hoffen, das Kind heute mit nach Hause nehmen zu dürfen. Jeden Tag würde ich als erstes auf die Anzeigetafel über dem Brutkasten schauen: wie hoch ist die Sauerstoffsättigung?
Ist sie unter 95, ist es ein schlechter Tag. Denn das heißt, dass O. immer noch zu schwach ist, um selbst zu atmen. Zu schwach, um selbstständig zu existieren, außerhalb der Intensivstation und innerhalb dessen, was unsere Familie werden sollte.
Unter 95 heißt, dass er noch weiter mit dem Schlauch durch den Mund, und später durch die Nase, Sauerstoff in die Lunge gepumpt bekommen muss. Durch diesen Schlauch, der ihn stört, den er sich immer wieder herauszieht, obwohl er doch eigentlich zu schwach für alles ist, und womit er einen Alarm auslöst und Stress bei den Pflegekräften.
Und es heißt, dass der dauerhafte Luftstrom winzig kleine Narben in Os. noch so winzigen Lunge hinterlässt, weshalb er anderthalb Jahre später mit einer lebensgefährlichen Bronchitis erneut im Krankenhaus landen wird, an Schläuche angeschlossen, Aufenthaltszeit ungewiss.
Eine Sauerstoffsättigung unter 95 heißt: Nichts ändert sich. Wir werden noch wer-weiß-wie-viele Tage täglich ins Krankenhaus pendeln, eine Stunde hin und eine Stunde zurück, erst ich drei Stunden, dann R. drei Stunden.
Wir beide würden täglich zuerst auf die Anzeigetafel über dem Inkubator blicken und dann der anderen Person eine Nachricht schicken: wie hoch ist die Sättigung aktuell? Auch wenn ich O. gerade erst verlassen hatte, wollte ich das doch unbedingt wissen.
Ich wollte ein Gefühl der Kontrolle erlangen, oder zumindest etwas Verantwortung, denn Kontrolle, das wissen wir alle, die gibt es nicht, wenn es ums Kinderkriegen geht.
Unsere Anwesenheit war Teil der Kur, das wurde uns auch so gesagt: Der stundenlange Körperkontakt helfe unserem Baby am meisten, zu reifen, sich zu entwickeln. So würde er hoffentlich keine OPs mehr benötigen und könnte nach Hause kommen, sobald er soweit war.
Unsere Oberkörper wurden zum Uterus-Ersatz. Ich pumpte ab, fleißig, alle drei Stunden, auch nachts, trotz Milchstau und Hass auf die elektrische Apotheken-Pumpe. Ich hatte auf Empfehlung der stationsinternen Stillberaterin ein Foto von O. gegen diesen rhythmisch schnaufenden Apparat gelehnt, das sollte den Milchfluss anregen.
Mich erfüllte es jedoch mit tiefem Frust, mitten in der Nacht auf das Abbild meines verkabelten Babies zu starren, während es 13 Kilometer entfernt von mir die tags zuvor abgepumpte Brustmilch durch eine Sonde eingeführt bekam.
Die gleiche Stillberaterin verschrieb mir auch Medikamente, denn ich produzierte zu wenig Milch. Bei der Entlassung sollten wir dann eine Kühltasche mitbringen, da war es dann doch ein Überschuss geworden, der ein ganzes Tiefkühlfach füllte.
So krochen die Stunden dahin, wurden rhythmisiert durch Pumpen, Pendeln, Kuscheln, wurden zu Tagen und Wochen. Sachen änderten sich, im Schneckentempo, auf der normalen Intensivstation. Irgendwann wurde der geschlossene Inkubator durch ein oben offenes Wärmebett ersetzt und O. durfte Kleidung tragen, winzige Bodies, nicht mehr nur die Windeln in Größe 0.
Wir bekamen mehr Verantwortung, durften die Windeln selbst wechseln, irgendwann konnten wir uns unser Baby auch ohne Hilfe auf die Brust legen und dann, mein Highlight nach zwei Monaten: In einer Plastikschüssel so groß wie ein Keksteller durfte ich O. baden. Nicht allein natürlich, und nur auf mehrmalige Anfrage, da die Pflegekräfte wenig Zeit hatten, wie schon gesagt. Wir waren keine Sorgenfamilie, O. kein Problempatient. Wir brauchten vor allem eins: Geduld.
Heute kann ich nachvollziehen, dass die Pflegekräfte anderes zu tun hatten, als sich Zeit zu nehmen für meine wiederholten Fragen, auf die sie ohnehin keine befriedigende Antwort hätten geben können – wer weiß schon, wann ein Körper lang genug “stabil” ist?
Mittlerweile habe ich zwei gesunde Kinder. Eins davon ist O. Der Champion von der Intensiv-Intensivstation ist jetzt ein großer Bruder mit schwachen Lungen, wenig Geduld und viel Fantasie. Die Geburt des zweiten Babies, ohne bemerkenswerte Probleme, war beyond heilsam für mich. Und ich bin beyond dankbar für alles, was passiert ist.
Und ich werde trotzdem nie vergessen, wie machtlos ich war in diesen 12 Wochen Krankenhaus. (Und in den 5 Wochen davor, die ich selbst im Krankenhaus lag, mit verkürztem Muttermund und dann mit geplatzter Fruchtblase. Das Ausgeliefert sein. Das alles immer falsch machen. Das Nicht-verstehen, warum mir niemand erklären kann, warum ich hier gelandet war, am anderen Ende der Stadt, in einem Tunnel aus Hygienezwang, Kontrollverlust und Angst.)
Was ich nie vergessen werde:
Die kleinen Elektroschocks von meinen Plastikschuhen auf dem Linoleumboden, nachdem ich wieder laufen kann, wenn ich an der Schleuse warte, um reingelassen zu werden.
Die tägliche U-Bahnfahrt und meine Angst, krank zu werden, weil ich dann das Kind nicht mehr sehen darf. Das Maske tragen, noch vor Corona.
Die lähmende Anonymität, die keinen Austausch zulässt zwischen mir und den anderen Eltern, meistens Mütter, die bei ihren verkabelten Kindern sitzen oder im Abpumpraum, alle hungrig auf ordinäres Eltern-Sein.
Die trostlosen Weihnachtsstände, die jede Station ausrichtet, um die Kaffeekassen der überlasteten Mitarbeiter*innen auszubessern und dann plötzlich diese eine Stunde, die ich fast glücklich auf dem Weihnachtsmarkt bei uns um die Ecke verbringe, mit dem Versprechen der Ärztin im Ohr, dass das Kind womöglich – vielleicht! – nächste Woche nach Hause kommen kann.
Nie hatte irgendjemand so etwas Konkretes versprochen!
(Und ja, dann dauert es doch länger, natürlich, aber diese Aussicht eröffnete mir einen Spalt Normalität im Alltag aus Abpumpen, U-Bahn Fahrten und Krankenhausmaschinen, ermöglichte einen Spaziergang in der Realität, die unbeschwerteste Stunde in der ganzen Zeit.)
Ich habe immer gedacht, währenddessen und danach: Das ist die einsamste Erfahrung, die ich je machen werde. Sie schien mir auch einsam, weil sie so unpolitisch wirkt.
Das ist der Lauf der Dinge. Leben und Tod treffen sich in der Geburt, so sagt man doch.
Und ja, es ist um Längen besser, in Deutschland ein Frühchen zu bekommen, als anderswo. Während Corona war ich doppelt dankbar, wenn ich an die Familien dachte, die die Kinder wohl nun nicht würden besuchen dürfen. Als die Bomben auf Krankenhäuser in Gaza fielen und die Brutkästen keinen Strom mehr hatten, wurde mir schwarz vor Augen.
Mittlwerweile denke ich: Eine Situation wie meine, wie unsere, kann nur dann weniger einsam sein, wenn wir sie politisch betrachten. Und da geht es auch, aber nicht nur um das kaputt gesparte System Krankenhaus.
Es geht auch um Einsamkeit als politischen Zustand, in dem Menschen vulnerabel sind und anfällig dafür, sich nach Kontrolle zu sehnen. Es geht darum, dass wir uns Verbindungen trotz Differenzen schaffen, um zusammenzubleiben in Extremsituationen.
Emilia Roig erinnert sich in ihrem Essayband “Lieben” an ihr zweites Kind, das im Krankenhaus, auf der Frühchenstation, stirbt.
Sie schreibt: “Ich war damals mit dem Vater meiner Kinder verheiratet, die Annahme war also, dass die gesamte Fürsorge und Unterstützung aus dem Schoß unserer Ehe kommen sollte – das heißt von ihm. Das Konstrukt der monogamen Paarbeziehung verhindert breitere Unterstützungsnetze, weil davon ausgegangen wird, dass das Paar und die Kernfamilie eine unendliche Quelle an Care bilden. Im Nachhinein bin ich mir ziemlich sicher, dass ich heute in der gleichen Situation mehr Unterstützung von meinem Umfeld erhalten würde, allein aufgrund der Tatsache, dass ich weder verheiratet bin noch in einer Paarbeziehung lebe.”
Ich habe jetzt zwei Kinder und scheitere täglich daran, politisch so engagiert zu sein, wie ich es gerne wäre. Ich muss eine Art unendliche Quelle an Care für diese beiden sein und fühle mich dadurch an den Rand der Realität gedrängt: Ich beobachte, ich verzweifle an der Verrohung der Gesellschaft, die ja auch für die Zukunft meiner Kinder nichts Gutes bedeutet, und habe dennoch kaum Kraft, um mich einzumischen. Eine Demo in einem halben Jahr scheint das Maximum meiner aktuellen aktivistischen Leistungsfähigkeit zu sein.
So verbringe ich viele Nachmittage in der Einsamkeit des Kinderzimmers, anstatt mit hoffnungsvollen Verbündeten.
Ich wäre aber gerne mehr für meine Freund*innen da, immerhin, weil auch das ein Engagement ist, das ins Politische hineinwirkt.
Das ist dann kein System, dass Kontrolle verspricht, sondern etwas viel wichtigeres: Vertrauen in ein Netzwerk.
“Ich meine, je dezentraler unsere Liebe ist, desto gesünder kann jede einzelne Bindung sein. Die Idee, dass die Kraft in der Vielfalt liegt, ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein biologisches Prinzip”, schreibt Emilia Roig.
Deshalb: ruft mich an, jederzeit, wenn ihr etwas braucht!
Egal ob ihr an eurer Erziehungsverantwortung verzweifelt oder ob es in eurem Job scheiße läuft, ob ihr die Zeiten, in denen wir leben, kaum noch ertragen könnt oder die x-te Grippe und diskriminierende Strukturen euch davon abhalten, euch öffentlich einzumischen: Ich koche euch eine Suppe, ich besuche euch im Krankenhaus, ich suche mit euch nach den Nischen, in denen Verantwortung für das eigenen Schicksal möglich scheint.
Alisa Tretau realisiert Kulturprojekte an der Schnittstelle von Kunst, Gesellschaft und politischer Praxis. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen Performance, Medienkunst und Literatur mit Schwerpunkten auf Körper, Care und Klimakrise.
Alisa ist die Initiatorin des Projekts NICHT NUR MÜTTER WAREN SCHWANGER und veröffentlichte 2018 den gleichnamigen Sammelband in dem Verlag edition assemblage. Alisa hat zwei kleine Kinder.