Bevor mein erstes Kind geboren wurde, lag ich fünf Wochen im Krankenhaus, das Kind dann noch weitere drei Monate. Vom September in den Dezember hinein, vom Spätsommer bis kurz vor Weihnachten, waren wir Patient*innen.
Ich bin im Sommerkleid eingeliefert worden und das Baby dann im viel zu großen Wollwalkanzug, der kleinsten Größe, die es gab, entlassen worden.
Kennt ihr das: Ihr möchtet irgendetwas unbedingt erreichen – eine berufliche Position erlangen, etwas sehr gutes kochen oder vielleicht auch ein sportliches Ziel umsetzen – und das klappt nicht? Ihr versucht es immer wieder, ihr trainiert, ihr schmeckt ab, ihr führt Gespräche – und irgendwie kommt ihr nie dahin, wo ihr sein möchtet. Woran merkt ihr, dass es Zeit ist, aufzuhören? Und wie fühlt ihr euch dann?
Als ich das Ziel hatte, unbedingt schwanger zu werden, und es nicht “einfach so” klappte, fühlte ich mich ziemlich schnell als Versagerin. Mit jeder Monatsblutung fühlte ich, dass mein Körper an der vermeintlich natürlichsten Sache der Welt scheiterte.
Als ich es dann endlich schaffte, nach mehreren Fehlgeburten und Kinderwunschbehandlungen, fiel es mir schwer, mich so richtig zu freuen. Und das, obwohl ich mein Ziel erreicht hatte: Ich war schwanger. Aber ich hatte auch ein bisschen geschummelt – die Backmischung benutzt, sozusagen. Ich war nur mit medizinischer Unterstützung über die Ziellinie gekommen.
Und dann stellte sich heraus, dass ich doch noch nicht am Ende eines zähen Kinderwunsch-Marathons angelangt war, sondern gerade erst auf der Startbahn hockte. Das ungeborene Baby war künstlich entstanden und es sollte nur dank der modernen Medizin lebendig auf die Welt kommen. Wie sehr konnte mein Körper eigentlich noch scheitern?
Was war passiert?
Bei der Feindiagnostik um die 21. Schwangerschaftswoche herum stellt der nach Golfplatz riechende Arzt fest: Mein Gebärmutterhals ist viel zu kurz. Da, wo ein einige Zentimeter dicker Pfropfen das Ungeborene vor der Außenwelt schützen sollte, sind nur 7 Millimeter im Ultraschall sichtbar. Von dem Termin hatten mein Partner R. und ich uns niedliche 3D-Aufnahmen des ungeborenen Kindes erhofft, auf dem Bildschirm zeigt sich stattdessen ein kegelförmiger Riss in meinem Körper. Um das Baby geht es jetzt nur noch am Rande.
Sie müssen sofort ins Krankenhaus, sagt der stinkreiche Arzt und lässt gleich seine Verbindungen spielen, telefoniert mich in die Charité hinein, Wedding zwar nur, aber immerhin.
Wenn ich damals verstanden hätte, dass wir die 13km, die diese Klinik von unserer Wohnung entfernt liegt, täglich würden pendeln müssen, um unser Baby auf der Intensivstation zu besuchen… hätte ich da nach Alternativen gefragt?
Nein, hätte ich wohl nicht. Als Eltern im Krankenhaussystem gibt man die Verantwortung ab. Muss man. Auch als Noch-nicht-Eltern-aber-endlich-Schwangere.
Was blieb mir anderes übrig, als dankbar und tapfer zu nicken, zu allem, was gesagt und beschlossen wurde? Ich hatte keine Ahnung, was da gerade passierte, konnte nicht einschätzen, wie gefährlich oder alltäglich die Situation war.
Ich wusste nur: nach zwei Fehlgeburten, nach fünf Kinderwunschbehandlungen, war ich endlich schwanger und es hatte gehalten. Bis hierher. Bis in die 21. Woche.
Jetzt war wieder alles – unnormal, unnatürlich, auf medizinische Hilfe angewiesen. Mein Körper hatte offensichtlich schon wieder versagt bei dem Versuch, ein Kind zu produzieren.
Statt Ultraschallfotos zu sammeln, vergieße ich nun also Tränen in einer Art Abstellkammer der Praxis, während R. nach Hause rast, um eine Tasche für mich zu packen.
Im, wie ich später erfuhr, Selbstzahlungs-Krankentransport geht es in die Klinik.
Ich warte und weine, stundenlang, bis ich aufgenommen werde.
Es ist die 21. Schwangerschaftswoche.
Wenn die Geburt jetzt los ginge, würde es wohl eine Totgeburt werden, informiert mich der diensthabende Arzt, der mich schlussendlich empfängt. Anstatt in den kommenden Tagen meine Fragen zu beantworten, drängt er mich ständig, meine Zustimmung zu einem Kaiserschnitt zu geben. Für die Akten.
Kaiserschnitt? Geburt?
Nein, davon kann keine Rede sein, bin ich überzeugt. Und Nein, ich möchte auch nicht die kleinen blauen Babies auf der Frühchenstation sehen, um mich auf dieses Szenario vorzubereiten, keinesfalls, das hat nichts mit mir zu tun.
Gut, ich muss im Krankenhaus bleiben, aber das ist nur ein temporärer Zustand.
Ich verstehe gar nichts.
Täglich frage ich den Arzt oder eine*n seiner Kolleg*in, wann ich gehen könnte, täglich bekomme ich keine Antwort.
Ich möchte im Ultraschall eine Verbesserung sehen, möchte sehen, dass der Gebärmutterhals sich wieder schließt, denn ich habe gehört, dass dies möglich sei.
Ich bettele um Ultraschalluntersuchungen, die der Arzt nicht für nötig hält, weil aus seiner Perspektive klar ist, dass ich bis zur Geburt bleiben muss.
Aber ich bin doch erst in der 21. Woche!
Ich bekomme zwei Ultraschalls, einmal misst der Gebärmutterhals 8mm, das andere Mal 9. Keine Veränderung also.
Ich liege im Bett und warte.
Warte und versuchte, nicht zu weinen, sondern zu denken, dass dies einfach eine ganz normale Zeit sei, eine Zeit, um mich auszuruhen.
Im Bett neben mir ziehen immer wieder neue Patient*innen ein. “Normal” Schwangere kurz vor Entbindung sind das Schlimmste für mich. Sie haben es geschafft: Sie tragen riesige Bäuche, keuchen und stöhnen, ganze Nächte lang höre ich sie hinter dem dünnen Vorhang zwischen unseren Betten seufzen, bis sie endlich, ganz normal, ihr Kind zur Welt bringen.
Für sie ist es eine Erleichterung, wenn sie in den Kreissaal dürfen.
Für diejenigen, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich, ist es das Schlimmste, dorthin zu müssen. Manche von diesen “anderen” Schwangeren bleiben eine Nacht oder zwei meine Zimmernachbar*innen, vielleicht auch mal eine Woche.
Aber irgendwann, und immer viel zu früh, müssen sie in den Kreissaal.
Sie wissen, und ich weiss es auch: Jetzt wird das viel zu kleine, unreife Baby aus ihnen herausgeholt. Auch wenn das niemand möchte. Auch wenn niemand weiss, wie es diesem Kind dann gehen wird, wie (über-)lebensfähig es sein wird.
Ich will das nicht, für mich und das ungeborene Baby in meinem Bauch. Ich möchte schwanger bleiben, ja, das Kind soll in mir bleiben, bis zumindest eine 3 vor der Wochenzahl steht und die Chancen, dass es gesund wäre, so erheblich gestiegen wären.
Aber Stop, ich bin in der Zeit verrutscht – also, bevor ich so ganz brav im Krankenhausbett liegen möchte, so unbeweglich, dass sogar die Pflegekräfte mir raten, mich doch mal ein bisschen zu bewegen, davor will ich vor allem eins: Nach Hause!
Warum?, frage ich mich heute. Wollte ich mir beweisen, dass ich doch einen gesunden Körper hatte, der eine normale Schwangerschaft austragen konnte?
Auf jeden Fall wollte ich nicht akzeptieren, was der unsensible Gynäkologe – warum hatte nur er immer Schicht? – mir ständig suggerierte: Kaiserschnitt, nicht lebensfähig.
Ich stellte täglich tausend Fragen und bekam nie eine Antwort, die ich verstand.
Heute denke ich: auch die Mediziner*innen im Krankenhaus wissen nicht, was wird, natürlich. Niemand hätte mir sagen können, was ich hören wollte zu dem Zeitpunkt: Dass alles gut werden würde.
Nach zwei Wochen und zwei Ultraschalls, auf denen der Gebärmutterhals gleich lang – beziehungsweise: kurz – bleibt, kommt die Entscheidung: Ich kann nach Hause gehen.
Erst als ich 1,5 Jahre später mit dem zweiten Kind schwanger bin und in einer Traumatherapie diese Zeit aufarbeite, lese ich in den Unterlagen, dass ich auf eigenes Risiko gegangen bin. Das war mir in dem Moment gar nicht klar.
Ich frage mich heute: Habe ich nicht richtig zugehört? Oder wurde ich nicht richtig informiert? “Dieser Arzt” und ich, wir verstanden uns einfach nicht.
Ich hätte gebraucht, dass er mal ohne Fachsprache mit mir spricht, mir in klaren Worten sagt, was Sache ist: Mit so einer Risikoschwangerschaft dürfen Sie nicht nach Hause gehen. Aber zu dem Zeitpunkt trage ich noch die Verantwortung über die Schwangerschaft und das ungeborene Leben (auf das der Arzt sowieso nicht so richtig zu zählen schien).
Später dann nicht mehr.
So verlasse ich also das Krankenhaus, auf unsicheren Beinen, die zwei Wochen lang nur bis zum Bad im Zimmer gelaufen sind, denn Bewegung ist gefährlich für die Schwangerschaft.
Es ist Herbst geworden, die Sandalen muss ich gegen Turnschuhe tauschen. Ich fahre im Taxi nach Hause, als glücklichste Schwangere der Welt.
Es ist so gemütlich zuhause!
R. bekocht mich, meine Freundin D. besucht mich, ich liege auf dem Sofa und suhle mich in der Normalität meines Körpers, meiner Schwangerschaft.
Abends liege ich endlich wieder im eigenen Bett, zu zweit mit R., um eine Serie zu schauen. Ganz normal.
Und dann zerplatzt der Traum von Alltag. Es läuft aus mir heraus. Etwas ist offen. Was ist das? Ein Geruch wie süßes Stroh breitet sich aus, er wird die nächsten Wochen bleiben und liegt mir jetzt noch in der Nase.
Die Blase ist geplatzt. Die Fruchtblase. Jetzt, in Woche 23. Was tun?
Wir rufen 112. Wir müssen erklären, dass das keine normale Geburt ist, sondern ein Notfall. Als die Vermittlungsperson am Telefon die Wochenzahl hört, 23, verändert sich ihre Stimme. Die Feuerwehr kommt. Vier Feuerwehrmenschen tragen mich auf einer Plastiktrage die Stufen aus dem 4. Stock herunter, mitten in der Nacht, in meinem nassen Nachthemd. Der Rettungswagen versperrt die Einbahnstraße, in der wir wohnen.
Wir sind auf dem Weg zurück ins Krankenhaus, keine 24 Stunden nach der Entlassung.
R. denkt: Jetzt kommt das Baby. Das sagt er mir aber nicht in dem Moment.
Was er mir sagt: Egal was kommt, wir schaffen das.
Ja, das denke ich auch. Und: Das Baby kommt jetzt nicht. Das weiß ich.
Zurück im Krankenhaus. Wieder Warten, aber diesmal ohne Weinen.
Nein, dieses Mal bin ich ganz woanders. Mein Körper ist taub.
Ich lasse alles über mich ergehen. Auch, dass der taktlose Gynäkologe schon wieder Schicht hat. Nur das Spekulum, das ist eine Tortur, denn ich weiß ja: Jetzt gerade schützt nichts mehr das Baby, die Fruchtblase ist offen. Und jetzt muss er mir diese kalte, womöglich nicht zu 150% sterile Metallklammer einführen? Ich verkrampfe vor Angst, mache so alles nur schlimmer und muss es doch ertragen.
Das ist nun also die Situation. Ich bin wieder im Krankenhaus. Den Premiumplatz am Fenster habe ich verloren, der ist schon wieder neu belegt, natürlich. Ich liege jetzt in einem anderen Zweibettzimmer, an der Tür neben dem WC.
Meine neue Zimmergenossin, sehr sympathisch, hat bereits ein Kind. Es ist zwei Jahre alt und versteht nicht, warum seine Mutter im Krankenhaus sein muss. Es will spielen und toben, wenn es zu Besuch kommt. Damals verstehe ich nicht, warum das Kind nicht täglich kommt.
Heute denke ich: Jeder dieser kleinen Abschiede muss für es unbegreiflich gewesen sein, für die Mutter kaum auszuhalten. Ihr Kind kommt dann auch bald, viel zu früh, natürlich.
Ich treffe sie später hin und wieder auf den verschiedenen Intensivstationen.
Ihr zweites Kind muss länger im Krankenhaus bleiben als mein erstes, obwohl es Wochen vor meinem auf die Welt kam, es wurde noch operiert.
Sie schafft es nicht täglich, zu Besuch zu kommen, sie hat ja schon ein Kind zuhause.
Wie es der Familie wohl heute geht? Ich weiß es nicht, das Frühchenstationen-Sommerfest würde wegen Corona abgesagt werden und ich sehe die anderen Eltern und ihre Kinder nie wieder.
Jetzt ist es aber noch nicht so weit.
Jetzt liegen meine Zimmernachbarin und ich brav in unseren Betten, ab und zu weint eine von uns, wenn gerade Visite ist oder die Sozialarbeiterin vorbeischaut.
Ich lerne, woran ich mich festhalten werde in den nächsten Tagen: Wenn die Schwangerschaft übergeht in eine Woche mit einer Drei davor, dann wird alles besser.
Dann muss das Baby vielleicht nicht in einen Brutkasten, dann kann es möglicherweise sogar vaginal zur Welt kommen.
Dann ist es wahrscheinlich gesund.
Und vor den Wochen mit der Drei? Da stehen die Chancen anders, die Statistiken sind gruselig und trotzdem schaue ich sie mir jeden Tag an.
Ich schaue jeden Tag, in welchem Entwicklungsstadium sich der Fötus im Bauch gerade befindet. Auf babyrosa Seiten von Hipp oder anderen Marken, die Produkte an die Familie bringen wollen, wird beschrieben, was in einer “normalen” Schwangerschaft gerade so los ist:
SSW 23: Das Baby turnt im Bauch und trainiert seine Gelenke (nicht in meinem, dadurch, dass kaum noch Fruchtwasser da ist, ist der Bauch schlaff und das Baby ruhig. Jeden Tag werden dreimal Herztöne und Wehentätigkeiten im CTG gemessen)
SSW 24: Das Baby ist so groß wie ein Blumenkohl. Es wiegt circa 600 Gramm (Es wäre gut, wenn es ein Kilo wiegt, wenn es zur Welt kommt).
SSW 25: Die Lunge reift langsam heran (ich habe schon vor vier Wochen eine Lungenreifugnsspritze bekommen, um die Überlebenschancen zu steigern)
SSW 26: Das Baby trainiert das Atmen. (Super!) Es trinkt das Fruchtwasser. (Das wenige, das noch vorhanden ist in meinem Bauch. Das scheidet es dann wieder aus. Nur so kann es überleben.)
Und ich?
Ich stricke. Eine Decke. Sie ist fast fertig, als das Baby kommt.
Ich desinfiziere die gemeinsame Toilette jedes Mal, bevor ich mich draufsetze. Spray drauf, 60sek warten, dann erst setzen.
Ich schaue aus dem Fenster, sehe ein Stück Himmel und die Turmfalken, die in der Hauswand gegenüber eine Familie großziehen. Ich beneide sie um ihr selbstbestimmtes Nest, um ihre freien Bewegungen.
Ich bin mittlerweile in einem Einzelzimmer, weil ich mir harmlose, aber ansteckende Krankenhauskeime eingefangen habe, und verlasse den Raum nie.
Ich lese. Die letzten 5 Seiten eines wirklich guten Buchs werde ich auslassen. Das Baby kommt.
Ich bin in der SSW 27, als das CTG schlecht wird.
Was genau ist los? Sind die Kindsbewegungen nicht mehr da, ist der Herzschlag zu schwach? Ich verstehe die Diagnose nicht, aber ich verstehe: Das sind schlechte Nachrichten.
Niemand ist überrascht, außer mir. Die Decke ist noch nicht fertig! Es ist noch keine Woche mit einer Drei davor! Das Baby ist doch erst so lang wie eine Zucchini! Es ist zu schrumpelig, zu klein, nicht überlebensfähig.
Das Baby bleibt drin! Das ist mein Wille. Aber mein Wille zählt nicht, es gibt keine Kontrolle beim Thema Schwangerschaft, das habe ich doch eigentlich schon gelernt.
Ich spüre das Mitleid der Pflegekraft, sie hat wahrscheinlich schon häufig diese Art von unnötigen Kampf erlebt.
Es ist SSW 27+4. Ich komme in den Kreißsaal.
Da, wo ich nicht hin möchte, zu diesem Zeitpunkt, auf keinen Fall!
Ich bekomme eine Zuckerlösung in die Venen, da bewegt sich das Ungeborene wieder.
Alles wieder gut! Ich darf zurück in mein Zimmer und triumphiere. Das haben die anderen Schwangeren nicht geschafft, die habe ich alle nie wieder gesehen, nachdem sie in den Kreißsaal geschoben wurden.
Trotzdem kommt eine Ärztin, eine nette zum Glück, und klärt mich auf. Mit ernstem Blick: Kaiserschnitt. Morgen ist die Chefärztin da. Wir warten ab, ja. Wir schauen, was Morgen ist. Aber die OP wird trotzdem schonmal vorbereitet, im Hintergrund.
Der nächste CTG läuft wieder schlecht. Ich verstehe.
R. fährt nach Hause. Er soll da schlafen. Ich kann nicht schlafen.
Am nächsten Morgen, es ist noch dunkel, kommt direkt der erste CTG des Tages.
Es ist SSW 27+5. Viel zu früh. Viel zu viel zu viel zu früh.
Ich hoffe noch auf diese letzte Untersuchung, doch ich kenne die Töne der Messung mittlerweile so gut, um zu merken: Das ist nicht gut, das reicht nicht aus, da stimmt was nicht.
Auch ich kann hören und muss verstehen: Das Baby bewegt sich nicht mehr.
Jetzt bin ich willenlos. Jetzt dürfen sie mit mir, meinem Körper, meinem gerade noch so lebendigen ungeborenen Kind, machen, was sie wollen. Alles, was nötig ist.
Ich warte. Im Kreißsaal, neben einem Geburtspool, an dem noch ein bisschen Blut schimmert. Nicht von mir natürlich.
R. kommt, ich habe ihn nach dem CTG wachgeklingelt. Er kommt mit dem Taxi, wie es so üblich ist zur Geburt, aber eben: allein. Wir warten. Nun zusammen.
Das Kind soll O. heißen. Wir werfen noch eine Münze zur Schreibweise. Wir googeln, welches Sternzeichen es haben wird, wenn es jetzt auf die Welt kommt und nicht erst in drei Monaten.
Wir warten stundenlang, bis es zur Geburt kommt, die ich auch danach lange nicht als Geburt wahrnehmen werde. Es ist eine OP. Eine massive Bauch-OP.
Ich sitze. Ich warte. Ich werde umgezogen und bekomme eine riesige Spritze in den Rücken, die PDA.
Ich hatte nie Wehen, denke ich wehmütig. Ohne Wehen war es keine Geburt, werde ich noch lange denken. Aber was war es dann?
Ich warte. Ich werde hingelegt, ausgebreitet wie Jesus. R. hält meine Hand.
Ich liege da und werde aufgeschnitten, es fühlt sich an, als würde jemand in meinen Zähnen wühlen, nur halt im Bauch.
R. ist da, er schaut mir fest in die Augen. Ich lasse alles über mich ergehen.
Dann ist es soweit. Das Kind kommt raus. Und das Warten hat dennoch kein Ende.
Ich dachte, sie zeigen uns das Baby, wenn es hinter dem Vorhang aus dem Bauch geholt wird? Ich dachte, es schreit vielleicht?
Aber nein, es verschwindet. Wir wissen nicht wohin. Wir hören die Uhrzeit, zu der es herausgeholt wird, und dann ist es weg. Ich muss noch zugenäht werden, eine Ewigkeit dauert das. Was ist mit dem Kind? Ist es gesund?
Das können uns die zunähenden Ärzt*innen natürlich auch nicht sagen.
Es ist Sonntag Vormittag. Wir sind wieder zusammen allein, wieder im Kreissaal, wo fremdes Blut klebt, jetzt ohne Baby im Bauch und mit leeren Händen.
Wir warten.
Eine Dreiviertelstunde, das weiß ich noch genau.
In der Zeit desinfiziert R. mir die Brust, damit das Baby dann da drauf gelegt werden kann.
Als wir davon erzählen, ganz stolz, weil wir mitgeholfen haben in diesem Geburtsprozess, weil wir uns schon ein bisschen auskennen mit Krankenhausaufenthalten, werden wir gerügt: Das Baby soll den Mutterschweiß riechen und schmecken, es soll jetzt bonden!
Bonden.
Darum wird es in den nächsten Wochen gehen, das ist unsere Aufgabe ab jetzt. Nichts entscheiden, keine Kontrolle oder Verantwortung, einfach nur: Da sein, als weiche Körper, um dem Baby Kraft zu spenden.
Human machines. Das soll jetzt losgehen. Von der Geburts-OP rein ins maschinelle Familienglück.
Mein Bett wird durch tausend Türen geschoben, endlose Flure entlang, zum Baby hin. Ja, da will ich jetzt auch hin, ich will es sehen! O. sehen und fühlen!
O. ist in einem winzigen Raum, vollgestopft mit Maschinen und medizinischem Personal, das Bett mit mir, der frisch gebackenen, frisch operierten Mutter, passt eigentlich gar nicht hinein.
R. zwängt sich durch und sieht sich das Baby an. Als erstes. Und sagt sowas wie “Alles dran!”. Er klingt tatsächlich glücklich.
Jetzt wird das Baby mir in einem komplizierten Bewegungsablauf auf die Brust gelegt, unter strenger Überwachung des Kinderarztes, der das Kind eigentlich nicht aus dem Brutkasten lassen will, so scheint es.
O. kommt also zu mir, wird mir auf die Brust gelegt, das erste Mal, nachdem ich ihn “geboren” habe.
Ich bin nicht mehr betäubt von der PDA. Ich fühle.
Angst. Ekel, Trauer.
Denn: Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass dieses Kind jetzt zur Welt kommt. Es ist viel zu klein. Es ist nicht schön, es hat so runzelige, blaue Haut. Der Arm ist so lang wie mein Finger. 891 Gramm. Weniger als eine Packung Milch.
Das ist eine Katastrophe. Ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen.
Der Arzt insistiert darauf, dass wir ein Foto machen. Auf dem Foto sieht man mich, wie ich lächle, ohne Zähne zu zeigen. Neben mir R., in kompletter OP-Montur, so dass Betrachter*innen später denken werden, er sei eine Pflegekraft, die sich aufs Bild geschummelt hätte.
Und das Baby, O., trägt eine Art Strumpf auf dem Kopf für die Wärme, darunter die Schläuche und Kabel.
Ein Schlauch in den Magen, ein Schlauch zur Lunge, ein Kabel in der Kopfhaut.
Das Kind wird zurück in den Inkubator gehoben und es wird Wochen dauern, bis wir es alleine dort rein- und rausheben dürfen. Dieser Kasten ersetzt jetzt – mich.
Alisa Tretau realisiert Kulturprojekte an der Schnittstelle von Kunst, Gesellschaft und politischer Praxis. Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen Performance, Medienkunst und Literatur mit Schwerpunkten auf Körper, Care und Klimakrise.
Alisa ist die Initiatorin des Projekts NICHT NUR MÜTTER WAREN SCHWANGER und veröffentlichte 2018 den gleichnamigen Sammelband in dem Verlag edition assemblage. Alisa hat zwei kleine Kinder.