Ich habe zwei deutsche Kinder bekommen.
Eins im Jahr 2004, mit gerade mal 24. Und eins 2017, mit 37. Relativ jung, relativ alt.
Bei meinem ersten Kind war ich eine totale Ausländerin, beim zweiten fast eine Deutsche.
Ich habe die Veränderungen in diesem Land hautnah miterlebt: Plötzlich war Halloween super beliebt. Aber Jungs in Strumpfhosen in der Kita? Verschwunden. Schreibschrift? Unerklärlicherweise noch genauso präsent. (Habt ihr euch mal das T angeschaut? Warum tun wir das unseren Kindern an, Deutschland?
Mein Großer schreibt nicht mal mehr Einkaufszettel per Hand, aber er hat in der Schule gelernt, ein „sogar Goethe hätte das übertrieben gefunden“-T zu schreiben. Es sieht aus wie ein kompliziertes H!)
Doch eine der größten Veränderungen war unser Verhältnis zur Gewalt.
Und zur gewaltfreien Erziehung.
Mein erster Sohn kam 2004 zur Welt. Supernanny – sowohl die britische als auch die deutsche Version – war total angesagt. „Kinder brauchen Grenzen“ war das Mantra.
Dass man seine Kinder nicht schlagen durfte, war noch frisch. Ein Klaps galt jetzt offiziell als Schlagen, und Schlagen war offiziell Gewalt. Das Gesetz dazu war erst vier Jahre alt. 2000 eingeführt.
Eine Tatsache, die wir schnell vergaßen – aber vielleicht ist das normal, wenn sich Gesetze und Bräuche wandeln. Das Rauchen in den ersten Bridget-Jones-Filmen wirkt heute befremdlich, genau wie die Tatsache, dass man früher unangeschnallt Auto fuhr. Wir haben es fast vergessen, weil uns die neue Realität so normal vorkommt.
Ich bekam meinen ersten Sohn relativ früh. Und er wurde relativ früh eingeschult. Fünf Jahre alt, und dann den ganzen Tag in der Ganztagsschule. Es war hart für ihn, und sein Verhalten spiegelte das wider.
Eines Tages, auf dem Schulhof, bei der Abholung, plauderte ich mit einer dieser weißen Hippie-Mamas. Wir hatten gemeinsame Freund*innen, gemeinsame Auftritte als Kleinkünstlerinnen sogar. Ich mochte sie. Schätzte sie. Bewunderte sie vielleicht. (Jahre später sollte ich sehr enttäuscht sein, als sie mich bei Facebook löschte, weil ich nicht glaubte, dass alle Berliner Asylbewerber Drogen verticken. Diese Aussage – für mich keine Kontroverse, sondern ein logischer Gedanke, war für sie ein Vorwurf, dass sie eine Rassistin sei. Na ja. Weiße Hippies halt.)
Also, ich plauderte.
Ich plauderte.
Ich plauderte.
Und plauderte.
Mein Kind, nach einem langen Tag in der Schule, kam zu mir. Wollte gehen. Ich sagte: „Nein, wir gehen gleich, ich rede gerade.“
Er boxte mir dann in den Bauch.
Und ich sagte, klar und ruhig: „Okay, wenn wir nach Hause kommen, gibt es heute Abend kein Fernsehen.“
Supernanny-Zeiten. „Kinder brauchen Grenzen“ war das Mantra und für mich bedeutete es, dass absolut jedes Fehlverhalten deines Kindes auf schlechte Erziehung zurückzuführen war. Dass man versagt hatte. Ein Kind, das seine Mutter boxt? Peinlich. Entlarvend. Also sagte ich das mit dem Fernsehverbot, sicher, dass es das Mindeste war, was eine gute Mutter tun würde.
Später, als mein Kind schlief, fand ich eine Nachricht von der Hippie-Mama bei Facebook vor. Freundlich, wohlwollend. Sie meinte, ich hätte überreagiert. Ein Fernsehverbot habe mit dem Boxen nichts zu tun, die Konsequenz sei sinnlos, mein Kind tue ihr leid.
Heute sehe ich das ähnlich. Fast. Aber damals? Völlig verwirrt. Es war das erste Mal, dass ich hörte, dass die Konsequenz mit dem Fehlverhalten logisch verbunden werden sollte.
Vielleicht brauchten wir diese Supernannys, um uns aus den körperlich gewaltvollen Erziehungsmethoden der 70er und 80er in eine neue Zeit zu bringen? Sie waren eine gateway drug für uns, raus aus der körperlichen Bestrafung, über den naughty chair, rein in die bedürfnisorientierte Erziehung.
Ich erinnere mich an einen Kindergeburtstag. Hier traf ich eine stinknormale deutsche Supernanny-Mutter, eine weiße deutsche gentle-parenting-Mutter und eine Schwarze, nicht-deutsche Mutter. Sie folgte den Empfehlungen der Supernanny. Ich erinnere mich, wie ihr Kind als Problemkind gesehen wurde. Von den Kita-Erzieher*innen. Und, wenn ich ehrlich bin, auch von uns Müttern.
Der Junge schlug andere Kinder. Seine Mutter setzte ihn auf den Time-Out-Stuhl. Doch während er dort saß, gab sie ihm ein Spielzeug. Um ihn abzulenken.
„So ist Time-Out doch sinnlos!“ empörte sich die Supernanny-Mama. „Wie soll er über sein Verhalten nachdenken, wenn er spielt?“
„Time-Out ist sowieso total gewaltvoll!“ sagte die gentle-parenting-Mama.
Ich starrte sie an. Zum ersten Mal hörte ich das. Time-Out? Gewalt? Schlagen war Gewalt, und Time-Out war das, was wir machten, statt zu schlagen. Wie könnte es gewaltvoll sein?
„Was? Schlagen ist Gewalt. Aber Time-Out?“, sagte ich.
„Ein Kind von sich wegzuschicken, es abzulehnen, weil sein Verhalten dir nicht passt. Das ist auch eine Form von Gewalt.“
„Darüber musste ich erstmal nachdenken. Und meine Nachdenkzeit hat Jahre gedauert.“
Heute neige ich dazu, zu denken, dass Nachdenkstühle nicht unbedingt super gewalttätig sind – aber ziemlich sinnlos.
Mein Großer schlug mal seine beste Freundin, uns setzte sich selbst auf den Naughty Stuhl, bevor ich etwas sagen konnte.
Mein Kleiner sagte mir nach der Kita einmal: „In der Kita hast du eine Wahl: Du kannst aufräumen oder eine Pause machen und nachdenken, warum du nicht aufräumen willst. Aber ich denke immer über andere Sachen nach. Ich spiele Paw Patrol in meinem Kopf. Und dann, nach ein paar Minuten, ist alles aufgeräumt von den anderen Kindern, und ich stehe auf. Ich verstehe nicht, warum die anderen Kinder nicht sitzen wollen. Vielleicht weil es nur einen Stuhl gibt?“
Als ich in meinen Dreißigern ein neues deutsches Kind bekam, hatte Deutschland sich verändert. Die deutsche Supernanny hatte begriffen, dass Kinder nicht nur Grenzen, sondern vor allem Liebe und Zuneigung brauchen. Beziehung statt Erziehung war das neue Mantra. Deutschland hatte sich umgestellt.
Wir erziehen bedürfnisorientiert. Wir erziehen gewaltfrei. (Na ja. Mehr oder weniger, oder?)
Ich treffe mich mit ein paar Müttern.
Eine verheiratete deutsche Mama, eine alleinerziehende Deutscharaberin, eine alleinerziehende weiße Engländerin. Die deutscharabische Mutter hat Großeltern, die nach Deutschland gekommen sind, also sie ist wirklich deutscher als ich. Aber sie ist auch immer noch ein bisschen Migra-Mama.
„Ein bisschen Cola schadet nicht“, sagt die deutsche Mama. „Es geht um körperliche Autonomie.“
„Ja, aber Cola ist voller Chemikalien“, sagt die Engländerin.
Die Deutscharaberin schmunzelt. „Mein Sohn versteht, dass wir in unserer Familie keine Cola trinken. Er versteht auch,warum.”
Das ist eine andere Veränderung seit 2004: damals waren es öfters die weißen Mamas, die Cola oder McDonalds verboten haben, jetzt sind es die Migra-Mamas, auch wenn die Gründe dafür andere sind.
“Wenn die Kinder die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, lernen sie, ihren Körper zu respektieren”, sagt die Deutsche.
“Ich bin seine Mutter. Ich sage ihm, was er essen soll.“, sagt die deutscharabische Mama.
„Warum?“ fragt die Deutsche.
„Weil ich seine Mutter bin.“, erklärt sie.
Die Deutsche blinzelt verwirrt.
“Ich verstehe den Zusammenhang nicht”, sagt sie, ein bisschen passiv-aggressiv.
“Das ist die Aufgabe der Eltern! Ich sage ihm auch, dass er sein Gemüse aufessen soll.”
Die weiße Engländerin sagt: “Ich sage immer, man müsse einen Biss probieren. Ein Biss von allem, was auf dem Teller ist. Sogar Gemüse!”
“Aber warum?”, fragt die Deutsche. “Würdest du das mir auch sagen, wenn ich dir sagen würde, dass ich etwas nicht mag, was auf meinem Teller ist?”
“Ich sage es deutschen Erwachsenen manchmal”, sage ich. “Mit Marmite. Nur ein kleines Biss!”
Die weiße deutsche Mama ist ein bisschen empört über uns. Wenn ich total ehrlich bin, ist die schockierende Wahrheit, dass mein zweites Kind ein Traumkind ist, was Essen angeht zumindest. Er liebt Erbsen und beschwert sich immer, dass sie in der Schulkantine nur eine Portion Erbsen bekommen dürfen, aber zwei Portionen Kartoffeln. Er liebt Blumenkohl. Er liebt alle Arten rohes Gemüse, inklusive Fenchel (YUCK?) und er beschwert sich immer, wenn ich ein Sandwich für die Brotdose mache, nur mit Schinken oder Käse und ohne Gurke oder Salat. Er findet, ein Sandwich ohne Grünes ist kein echtes Sandwich. Ich muss meinem zweiten Kind gar nicht sagen, dass er einen Biss probieren soll – denn er isst alles auf.
“Aber wir sind die Eltern”, sagt die Engländerin. “Wir tragen Verantwortung für ihre Ernährung, denn wir verstehen, warum Gemüse gesund ist. Wenn ein Erwachsener zu Besuch kommt, weiß diese Person selbst, dass sie Gemüse essen soll. Sie darf entscheiden, dass sie ungesund sein möchten. Unsere Kinder verstehen das nicht, oder?”
“Ja, genau”, sage ich.
“Wisst ihr, was ich mache? Ich mache Karotten und Zucchini mit einem Pürierstab in die Tomatensoße!”, sagt die Engländerin.
“Oh gute Idee”, sage ich. “Weißt du, was ich für den Großen früher einmal gemacht habe? Süßkartoffelpüree in amerikanischem Mac n Cheese! Sieht aus wie Cheddar. Hat alles aufgegessen.”
“Oh, so klug von dir!”, sagt die Engländerin.
Und dann kommt die weiße Deutsche: “Ich verstehe nicht?”
Wir gucken sie alle an.
Wir verstehen nicht, was sie nicht versteht. Ich glaube, wir verstehen sie weniger, als sie uns versteht.
“Um die Kinder mehr zum Gemüse essen zu bringen”, sagt die Engländerin, langsam und vorsichtig. “Schmuggeln wir ein bisschen Gemüse rein.”
“Ihr lügt eure Kinder an?” fragt die Deutsche, empört.
“Wir lügen nicht”, sage ich. “Wir erwähnen nur nicht jede Zutat.”
„Warum?“, sagt die Deutsche.
“Weil sie Gemüse essen sollen”, sagt die arabische Mama.
“Und warum muss man dann lügen?”
“Weil sie Gemüse nicht mögen”, sage ich. (Ich denke, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt zu erwähnen, dass mein Kind Pak Choi und Rosenkohl gerne isst, und dass er am Weihnachtstag mehr Rosenkohl als alle anderen am Tisch zusammen gefressen hat. Ich will nicht als Angeberin gelten!)
“Ich verstehe es nicht”, sagt die Deutsche. “Würdest du einem erwachsenen Mensch, der bei dir zu Besuch ist, und der weiß, dass er ein bestimmtes Essen nicht leiden kann – ich rede jetzt gar nicht über Moslems, die kein Schweinefleisch essen wollen, oder Vegane, die kein Fleisch essen wollen, oder Allergiker und Nüsse – du hast ein Freund zu Besuch, der dir sagt, dass er rote Beete nicht leiden kann. Würdest du das dann klein schnippeln und in einer Soße verstecken, um ihn auszutricksen? Weil wenn ja, komme ich nie bei euch zum Essen vorbei!”
“Aber das ist total anders”, sagt die deutscharabische Mutter.
„Warum?“, sagt die Deutsche.
“Weil die Kinder nicht wissen, was sie wirklich mögen”, sagt die Engländerin.
“Weil sie Kinder sind”, sagt die arabische Mama. “Und wir die Eltern.”
Die Sache ist: ich bin immer, nachdem ich nachgedacht habe, und manchmal dauert das Jahre, auf der Seite der weißen, weichen, gewaltfreien Mamas. Manchmal brauche ich eine Weile, um diese neuen Ideen zu verdauen. Manchmal bin ich nur theoretisch einverstanden, aber in der Praxis mache ich weiter in meiner eigenen Art.
Aber grundsätzlich denke ich:
Ja, das Fernsehverbot hatte nichts mit Boxen zu tun, und er war voll müde nach einem ganzen Tag an einer für ihn total neuen und überforderten Ganztagsschule. Ich hätte einfach gehen sollen, als er gehen wollte.
Ja, Time-Out-Stuhl ist wahrscheinlich eine Form von Gewalt. Man bestraft die Kinder mit Einsamkeit und Ausgrenzung (auch wenn mein zweites Kind es entspannend findet)
Ja, ja, ja: Kinder sollen selbst entscheiden dürfen, was sie essen (obwohl you’re literally never gonna get me to go so far as to say smuggling a cheeky bit of Süßkartoffel into a MacNCheese ist gewaltvoll, ich zeige niemanden die genaue Zutatenliste bevor sie was aufessen, plust it’s just totally delish and perfectly fine yo)
Aber hier ist das Problem bei unserer Konversation zu gewaltfreier Kindererziehung:
Es ist leichter für weiße Frauen, besonders weiße Frauen mit Geld und akademischem Status, mit einem Ehemann, die in ihrem eigenen Land leben, gewaltfrei zu erziehen. Besonders dann, wenn ihre Kinder auch weiß sind.
Denn: Wir leben in einer gewaltvollen, rassistischen Gesellschaft.
Nicht-weiße Kinder werden viel schneller selbst als gewalttätig abgestempelt, besonders die Jungs werden dämonisiert. Nicht-weiße Mamas werden als weich und sanft – und überfordert – stigmatisiert. Aber auch weiße Mamas aus niedrigeren Sozialschichten oder ohne männliche Lebenspartner werden für bewusste Kindererziehungsentscheidungen kritisiert.
Ich lernte vor ein paar Jahren – als mein 2017 geborener Sohn in der Kleinkindphase war – eine palästinensische Griechin über Facebook kennen. Sie wohnte in London, und wir trafen uns in einer Facebook „28 Day No Yelling Challenge“-Gruppe. In dieser Challenge-Zeit wurde sie von der britischen Privatkita, in die ihr Kind ging, ans Jugendamt gemeldet, weil geglaubt wurde, dass das Verhalten des Kindes auf emotionale Vernachlässigung hindeute. Ich will nicht behaupten, dass das einer weißen, nicht-muslimischen Mutter nicht passieren würde – aber ich glaube, dass es bei braunen, muslimischen Eltern schneller passiert.
In diesem 28-Day-Challenge-Zeitraum bin ich den Anweisungen, die wir in der Gruppe kennenlernten, gefolgt. Mein Kind war richtig in der Trotzphase und hatte oft Wutanfälle. Man sollte sich mit ihm hinsetzen, auf den Boden sogar, viel körperliche Nähe anbieten, und warten, bis die Wut vorbei geht. Ich habe das einmal probiert – und eine ältere deutsche Frau sagte zu mir: “Schlampe!” (Auf dem Weg nach Hause kam mir der Gedanke: Dachte sie, ich würde betteln?)
Und meine Freundin mit arabischen Wurzel? Neulich beim Elternabend wurde ihr gesagt, dass ihr Junge zu viel schlägt, weil er zu viele YouTube Shorts guckt. Meine Freundin sagt, er würde sich nur gegen mobbende Mitschülerverteidigen. Ich glaube ihr zu 100%, ehrlich gesagt – aber was ich auch noch glaube, ist, dass, wenn ihr Sohn weiß wäre und Maximilian heißen würde, die Lehrkräfte sich nicht an die Tatsache erinnern würden, dass er einmal im Unterricht YouTube erwähnt hat.
Ich glaube total an die gewaltfreie Kindererziehung, obwohl ich nicht so sehr daran glaube, dass man “perfekt” erziehen muss, um eine gute Mama zu sein. Und ich fürchte, dass die Mütter, die versuchen, perfekte gewaltfreie Erziehung zu praktizieren, sich überfordern. Ich denke, es ist besser, deinem Kind zu sagen: “Nein, heute nur Cornflakes, ich bin zu müde”, als ein ice-cream feast breakfast zu erlauben und dann beim Abwasch das Kind anzuschreien, weil man überstrapaziert und genervt ist. Aber ich denke auch, dass alle ihre eigenen Wege gehen müssen, und es fast sinnlos ist, sich in die Erziehungsmethoden anderer Eltern einzumischen (solange sie nichts machen, was illegal ist).
Ich glaube an die gewaltfreie Kindererziehung und deswegen bin ich dankbar, dass es diese weißen, weichen, sanften, gentle parenting Mamas gibt, die uns auf neue Ideen bringen. Ich glaube, ohne sie gäbe es keinen Sinneswandel bei der Supernanny. Ich glaube auch, dass es in den autoritären Zeiten, die vor uns liegen, sein kann, dass die Fortschritte, die sie gemacht haben, rückgängig gemacht werden. Ich bin dankbar für die Lektionen der weißen Mamas.
Und dennoch: ich würde mir wünschen, dass sie einsehen würden, dass sie diese Ideen in einer gewaltvollen, rassistischen Gesellschaft entwickeln durften.
Denn wir leben in einer gewaltvollen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die voll von Gewalt und Rassismus ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der braune und Schwarze Mütter mehr Angst haben müssen um ihre Kinder. Sie müssen mehr Angst haben vor Lehrer*innen, die ihre Kinder, besonders ihre nicht-weiße Kinder, der Schule verweisen können. Sie müssen mehr Angst haben vor Sozialarbeiter*innen oder Familienrichter*innen, die entscheiden können, ob das Kind beim Papa wohnt, oder sogar bei einer Pflegefamilie. Sie müssen, wenn sie Schwarze oder braune Jungs haben, mehr Angst vor der Polizei haben. Sie müssen Angst haben, sie müssen Angst haben. Sie müssen Angst haben vor Ärzten oder Ärztinnen, vor Ergotherapeut*innen, vor Erzieher*innen. Auch vor den Nachbar*innen.
Ich merke, wie viel Angst ich haben müsste, wären meine Kinder nicht so white-passing, wenn ich auf braune oder Schwarze Kinder aufpasse. Wenn ich ein weißes Kind mit nach Hause nehme, behandelt man mich so wie normalerweise, wenn ich mit meinem white-passing Kind unterwegs bin. Habe ich ein Schwarzes oder braunes Kind dabei, werde ich immer von deutschen Opas und Omas verbal angegriffen. Es macht mich richtig wütend und traurig, aber ich muss strenger sein, weil wir so viel Ärger kriegen. Seid leise, sitzt still, bewegt euch nicht. Ich muss schneller Bildschirme verteilen, um uns vor stressigen oder sogar gefährlichen Situationen zu schützen. Das ist die Welt, in der wir gerade leben.
Eine braune oder Schwarze Mama, besonders wenn ihr Kind auch rassifiziert wird, darf eigentlich nicht sagen: “Du darfst deine Gefühle zeigen. Du darfst jetzt ausrasten. Hier ist ein sicherer Raum für deine Gefühle.” Denn: diesen sicheren Raum gibt es nicht. Deutschland ist kein sicherer Raum.
Und ich würde mir wünschen, dass weiße Frauen, die perfekt erziehen wollen, das auch anerkennen.
Eine weiße Frau, eine weiße Frau mit Bachelorabschluss und Ehemann, besonders wenn sie in ihrem eigenen Land lebt, aber auch als “gute Ausländerin”, deren Kinder zu viele Süßigkeiten essen, oder zu viel YouTube gucken, oder zu laut schreien – es wird Verständnis gezeigt, das nicht-weiße Mamas nicht erfahren. Auch wenn man ihre Entscheidungen missbilligt – sie werden als Entscheidungen gesehen. Ach, die erzieht zu bedürfnisvoll, sie ist antiautoritär, ach, sie versteht nicht, dass Kinder Grenzen brauchen.
Ihre Entscheidungen werden aber nicht als Gefahr für die Gesellschaft wahrgenommen.
im Vergleich zu ihr: wird bei ärmeren Frauen, egal welcher Hautfarbe, und braunen und Schwarze Frauen, egal wie viel Bildung, egal wie viel Einkommen, egal wie toll der Ehemann, nie dieses Benefit of the Doubt gegeben. Sie ist überfordert, ihre Kinder sind vernachlässigt und womöglich in Gefahr.
Wir können nicht gewaltfrei erziehen in einer Gesellschaft, die auf Gewalt basiert.
Und das nicht anzuerkennen? Das ist auch eine Form der Gewalt.
Jacinta Nandi kommt aus Ostlondon und lebt in Südberlin.
Ihr nächster Roman, Single Mom Supper Club, erscheint bei Rowohlt in Juni 2025.
Sie ist Mitglied des Künstler:innenkollektivs Parallelgesellschaft und alleinerziehende Mutter von zwei großartigen Söhnen.